Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweyter Gesang.
875Und itzt lagen der grauen Tiefe Geheimnisse plötzlich
Jhren Augen entdeckt; ein unermeßlicher, dunkler
Ocean; ohne Gränzen, und Grund; wo Läng, und Breite,
Höh, und Zeit, und Ort, sich untereinander verlieren;
Wo die älteste Nacht, und das Chaos, noch ältere Wesen [Spaltenumbruch] q),
880Als die Natur, im wilden Getümmel von endlosen Kriegen
Jhr anarchisches Reich durch ewge Verwirrung behaupten.
Denn Heiß, Kalt, und Trocken, und Feucht, vier würthende Kämpfer,
Streiten sich hier um die Herrschaft, und führen die embryonschen
Atomen in den Streit; sie schwärmen in zahllosen Schaaren
885Jeder um seines Anhangs Fahn', in verschiedenen Horden,
Leicht, oder schwer bewaffnet; scharf, sanft, geschwind, oder langsam,
Gleich dem Sande von Barka, und gleich dem versengeten Boden
Von Cyrrhene r), wenn kriegende Wind' ihn um sich versammeln,
Jhren leichten Flügeln ein stärkres Gewichte zu geben.
890Wem sie am meisten folgen, herrscht einen Augenblick. Chaos
Sitzt als Richter, und macht das Gefechte, durch welches er herrschet,
Durch die Entscheidung noch ärger. Nach ihm beherrschet der Zufall

Mächtig
q) Alle alten Naturkündiger, Phi-
losophen und Dichter hielten das Cha-
os für das erste Principium aller Din-
ge, und die Poeten besonders machten
aus der Nacht eine Gottheit, und schil-
derten die Nacht, oder die Finsterniß,
und das Chaos, oder die Verwirrung
in einer ungestörten Regierung mit
einander vom ersten Anfang an. So
[Spaltenumbruch] sagt Orpheus in dem Hymnus auf die
Nacht:
[fremdsprachliches Material - 3 Zeilen fehlen] Nacht, du Mutter der Götter und
Menschen und aller Dinge. N.
r) Eine Stadt und Provinz in dem
sandichten Lybien. N.
M

Zweyter Geſang.
875Und itzt lagen der grauen Tiefe Geheimniſſe ploͤtzlich
Jhren Augen entdeckt; ein unermeßlicher, dunkler
Ocean; ohne Graͤnzen, und Grund; wo Laͤng, und Breite,
Hoͤh, und Zeit, und Ort, ſich untereinander verlieren;
Wo die aͤlteſte Nacht, und das Chaos, noch aͤltere Weſen [Spaltenumbruch] q),
880Als die Natur, im wilden Getuͤmmel von endloſen Kriegen
Jhr anarchiſches Reich durch ewge Verwirrung behaupten.
Denn Heiß, Kalt, und Trocken, und Feucht, vier wuͤrthende Kaͤmpfer,
Streiten ſich hier um die Herrſchaft, und fuͤhren die embryonſchen
Atomen in den Streit; ſie ſchwaͤrmen in zahlloſen Schaaren
885Jeder um ſeines Anhangs Fahn’, in verſchiedenen Horden,
Leicht, oder ſchwer bewaffnet; ſcharf, ſanft, geſchwind, oder langſam,
Gleich dem Sande von Barka, und gleich dem verſengeten Boden
Von Cyrrhene r), wenn kriegende Wind’ ihn um ſich verſammeln,
Jhren leichten Fluͤgeln ein ſtaͤrkres Gewichte zu geben.
890Wem ſie am meiſten folgen, herrſcht einen Augenblick. Chaos
Sitzt als Richter, und macht das Gefechte, durch welches er herrſchet,
Durch die Entſcheidung noch aͤrger. Nach ihm beherrſchet der Zufall

Maͤchtig
q) Alle alten Naturkuͤndiger, Phi-
loſophen und Dichter hielten das Cha-
os fuͤr das erſte Principium aller Din-
ge, und die Poeten beſonders machten
aus der Nacht eine Gottheit, und ſchil-
derten die Nacht, oder die Finſterniß,
und das Chaos, oder die Verwirrung
in einer ungeſtoͤrten Regierung mit
einander vom erſten Anfang an. So
[Spaltenumbruch] ſagt Orpheus in dem Hymnus auf die
Nacht:
[fremdsprachliches Material – 3 Zeilen fehlen] Nacht, du Mutter der Goͤtter und
Menſchen und aller Dinge. N.
r) Eine Stadt und Provinz in dem
ſandichten Lybien. N.
M
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="23">
            <pb facs="#f0105" n="89"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Zweyter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
            <l><note place="left">875</note>Und itzt lagen der grauen Tiefe Geheimni&#x017F;&#x017F;e plo&#x0364;tzlich</l><lb/>
            <l>Jhren Augen entdeckt; ein unermeßlicher, dunkler</l><lb/>
            <l>Ocean; ohne Gra&#x0364;nzen, und Grund; wo La&#x0364;ng, und Breite,</l><lb/>
            <l>Ho&#x0364;h, und Zeit, und Ort, &#x017F;ich untereinander verlieren;</l><lb/>
            <l>Wo die a&#x0364;lte&#x017F;te <hi rendition="#fr">Nacht,</hi> und das <hi rendition="#fr">Chaos,</hi> noch a&#x0364;ltere We&#x017F;en <cb/>
<note place="foot" n="q)">Alle alten Naturku&#x0364;ndiger, Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophen und Dichter hielten das Cha-<lb/>
os fu&#x0364;r das er&#x017F;te Principium aller Din-<lb/>
ge, und die Poeten be&#x017F;onders machten<lb/>
aus der Nacht eine Gottheit, und &#x017F;chil-<lb/>
derten die Nacht, oder die Fin&#x017F;terniß,<lb/>
und das Chaos, oder die Verwirrung<lb/>
in einer unge&#x017F;to&#x0364;rten Regierung mit<lb/>
einander vom er&#x017F;ten Anfang an. So<lb/><cb/>
&#x017F;agt Orpheus in dem Hymnus auf die<lb/>
Nacht:<lb/><gap reason="fm" unit="lines" quantity="3"/> Nacht, du Mutter der Go&#x0364;tter und<lb/><hi rendition="#et">Men&#x017F;chen und aller Dinge. <hi rendition="#fr">N.</hi></hi></note>,</l><lb/>
            <l><note place="left">880</note>Als die Natur, im wilden Getu&#x0364;mmel von endlo&#x017F;en Kriegen</l><lb/>
            <l>Jhr anarchi&#x017F;ches Reich durch ewge Verwirrung behaupten.</l><lb/>
            <l>Denn <hi rendition="#fr">Heiß, Kalt,</hi> und <hi rendition="#fr">Trocken,</hi> und <hi rendition="#fr">Feucht,</hi> vier wu&#x0364;rthende Ka&#x0364;mpfer,</l><lb/>
            <l>Streiten &#x017F;ich hier um die Herr&#x017F;chaft, und fu&#x0364;hren die embryon&#x017F;chen</l><lb/>
            <l>Atomen in den Streit; &#x017F;ie &#x017F;chwa&#x0364;rmen in zahllo&#x017F;en Schaaren</l><lb/>
            <l><note place="left">885</note>Jeder um &#x017F;eines Anhangs Fahn&#x2019;, in ver&#x017F;chiedenen Horden,</l><lb/>
            <l>Leicht, oder &#x017F;chwer bewaffnet; &#x017F;charf, &#x017F;anft, ge&#x017F;chwind, oder lang&#x017F;am,</l><lb/>
            <l>Gleich dem Sande von <hi rendition="#fr">Barka,</hi> und gleich dem ver&#x017F;engeten Boden</l><lb/>
            <l>Von <hi rendition="#fr">Cyrrhene</hi> <note place="foot" n="r)">Eine Stadt und Provinz in dem<lb/>
&#x017F;andichten Lybien. <hi rendition="#fr">N.</hi></note>, wenn kriegende Wind&#x2019; ihn um &#x017F;ich ver&#x017F;ammeln,</l><lb/>
            <l>Jhren leichten Flu&#x0364;geln ein &#x017F;ta&#x0364;rkres Gewichte zu geben.</l><lb/>
            <l><note place="left">890</note>Wem &#x017F;ie am mei&#x017F;ten folgen, herr&#x017F;cht einen Augenblick. <hi rendition="#fr">Chaos</hi></l><lb/>
            <l>Sitzt als Richter, und macht das Gefechte, durch welches er herr&#x017F;chet,</l><lb/>
            <l>Durch die Ent&#x017F;cheidung noch a&#x0364;rger. Nach ihm beherr&#x017F;chet der <hi rendition="#fr">Zufall</hi></l><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Ma&#x0364;chtig</fw><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">M</fw><lb/>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0105] Zweyter Geſang. Und itzt lagen der grauen Tiefe Geheimniſſe ploͤtzlich Jhren Augen entdeckt; ein unermeßlicher, dunkler Ocean; ohne Graͤnzen, und Grund; wo Laͤng, und Breite, Hoͤh, und Zeit, und Ort, ſich untereinander verlieren; Wo die aͤlteſte Nacht, und das Chaos, noch aͤltere Weſen q), Als die Natur, im wilden Getuͤmmel von endloſen Kriegen Jhr anarchiſches Reich durch ewge Verwirrung behaupten. Denn Heiß, Kalt, und Trocken, und Feucht, vier wuͤrthende Kaͤmpfer, Streiten ſich hier um die Herrſchaft, und fuͤhren die embryonſchen Atomen in den Streit; ſie ſchwaͤrmen in zahlloſen Schaaren Jeder um ſeines Anhangs Fahn’, in verſchiedenen Horden, Leicht, oder ſchwer bewaffnet; ſcharf, ſanft, geſchwind, oder langſam, Gleich dem Sande von Barka, und gleich dem verſengeten Boden Von Cyrrhene r), wenn kriegende Wind’ ihn um ſich verſammeln, Jhren leichten Fluͤgeln ein ſtaͤrkres Gewichte zu geben. Wem ſie am meiſten folgen, herrſcht einen Augenblick. Chaos Sitzt als Richter, und macht das Gefechte, durch welches er herrſchet, Durch die Entſcheidung noch aͤrger. Nach ihm beherrſchet der Zufall Maͤchtig q) Alle alten Naturkuͤndiger, Phi- loſophen und Dichter hielten das Cha- os fuͤr das erſte Principium aller Din- ge, und die Poeten beſonders machten aus der Nacht eine Gottheit, und ſchil- derten die Nacht, oder die Finſterniß, und das Chaos, oder die Verwirrung in einer ungeſtoͤrten Regierung mit einander vom erſten Anfang an. So ſagt Orpheus in dem Hymnus auf die Nacht: ___ Nacht, du Mutter der Goͤtter und Menſchen und aller Dinge. N. r) Eine Stadt und Provinz in dem ſandichten Lybien. N. M

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/105
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/105>, abgerufen am 27.11.2024.