Unter den wenigen Büchern, die er sich auf der Bibliothek ausgesucht hatte, war ihm keins lieber, als eine lateinische Bibel. Darin, und besonders im neuen Testament las er unaufhörlich. Als er fand, daß die Religion Jesu in ihrer Quelle so ausserordentlich rein und einfach ist, und sie mit der Art verglich, wie sie heutzutage bey den Ka- tholiken gelehrt und ausgeübt wird, da stiegen ihm wegen der vielen Menschensatzungen und willkühr- lichen eigenmächtigen Zusätze viele Zweifel und Be- denklichkeiten auf, mit denen er lang zu kämpfen hatte, eh er sich etwas beruhigen konnte. Endlich dachte er, wenn ich nur blos auf die Ausübung der Religion nach dem Sinn Christi dringe, und die Zusätze der Kirche stillschweigend gelten lasse, ohne sie für göttliche Satzung auszugeben, so kann ich ja doch mehr Nutzen stiften, als wenn ich mich dem reissenden Strom widersetze; denn sonst wür- de man sich mir wieder entgegensetzen, oder mich gar verketzern, und dann wäre mir aller Weg, Gu- tes zu thun, abgeschnitten. Mit diesen, und ähn- lichen Betrachtungen beruhigte er sich wieder; aber doch stiegen ihm in ernsthaften Stunden des Nach- denkens oft wieder neue Gewissenszweifel auf, die ihn oft so ängstigten, daß er nicht wuste, was er
Unter den wenigen Buͤchern, die er ſich auf der Bibliothek ausgeſucht hatte, war ihm keins lieber, als eine lateiniſche Bibel. Darin, und beſonders im neuen Teſtament las er unaufhoͤrlich. Als er fand, daß die Religion Jeſu in ihrer Quelle ſo auſſerordentlich rein und einfach iſt, und ſie mit der Art verglich, wie ſie heutzutage bey den Ka- tholiken gelehrt und ausgeuͤbt wird, da ſtiegen ihm wegen der vielen Menſchenſatzungen und willkuͤhr- lichen eigenmaͤchtigen Zuſaͤtze viele Zweifel und Be- denklichkeiten auf, mit denen er lang zu kaͤmpfen hatte, eh er ſich etwas beruhigen konnte. Endlich dachte er, wenn ich nur blos auf die Ausuͤbung der Religion nach dem Sinn Chriſti dringe, und die Zuſaͤtze der Kirche ſtillſchweigend gelten laſſe, ohne ſie fuͤr goͤttliche Satzung auszugeben, ſo kann ich ja doch mehr Nutzen ſtiften, als wenn ich mich dem reiſſenden Strom widerſetze; denn ſonſt wuͤr- de man ſich mir wieder entgegenſetzen, oder mich gar verketzern, und dann waͤre mir aller Weg, Gu- tes zu thun, abgeſchnitten. Mit dieſen, und aͤhn- lichen Betrachtungen beruhigte er ſich wieder; aber doch ſtiegen ihm in ernſthaften Stunden des Nach- denkens oft wieder neue Gewiſſenszweifel auf, die ihn oft ſo aͤngſtigten, daß er nicht wuſte, was er
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Unter den wenigen Buͤchern, die er ſich auf der
Bibliothek ausgeſucht hatte, war ihm keins lieber,
als eine lateiniſche Bibel. Darin, und beſonders
im neuen Teſtament las er unaufhoͤrlich. Als er
fand, daß die Religion Jeſu in ihrer Quelle ſo
auſſerordentlich rein und einfach iſt, und ſie mit
der Art verglich, wie ſie heutzutage bey den Ka-
tholiken gelehrt und ausgeuͤbt wird, da ſtiegen ihm
wegen der vielen Menſchenſatzungen und willkuͤhr-
lichen eigenmaͤchtigen Zuſaͤtze viele Zweifel und Be-
denklichkeiten auf, mit denen er lang zu kaͤmpfen
hatte, eh er ſich etwas beruhigen konnte. Endlich
dachte er, wenn ich nur blos auf die Ausuͤbung
der Religion nach dem Sinn Chriſti dringe, und
die Zuſaͤtze der Kirche ſtillſchweigend gelten laſſe,
ohne ſie fuͤr goͤttliche Satzung auszugeben, ſo kann
ich ja doch mehr Nutzen ſtiften, als wenn ich mich
dem reiſſenden Strom widerſetze; denn ſonſt wuͤr-
de man ſich mir wieder entgegenſetzen, oder mich
gar verketzern, und dann waͤre mir aller Weg, Gu-
tes zu thun, abgeſchnitten. Mit dieſen, und aͤhn-
lichen Betrachtungen beruhigte er ſich wieder; aber
doch ſtiegen ihm in ernſthaften Stunden des Nach-
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1053. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/633>, abgerufen am 24.11.2024.
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