tigen Gottesdienstes sind. Wenn er zur Geduld im Leiden ermunterte, so war sein eignes Beyspiel die beste Aufmunterung und Lehre, denn er war, bey seinem abgezehrten, matten Körper immer hei- ter, wenn er mit den Leuten sprach, und seufzete blos in der Stille.
War er allein, so war der Gedanke an den Tod und an seine Mariane sein beständiger Gefähr- te. Wenn er über eine Wiese |gieng, so dachte er mit Sehnsucht: Vielleicht seh ich diesen Ort zum letztenmal; wenn er einem Sterbenden die letzte Oelung gab, so dachte er: O der Glückliche! Er kommt zu Gott, bey dem meine Mariane ist. Möcht ich doch mit ihm mich hinlegen und sterben! Gan- ze Stunden lang hieng sein Aug am stillen melan- cholischen Mond. Seine Phantasie überredete ihn, Marianens Seele sey im Mond; dieser Gedanke ward ihm oft Gewißheit, und er schwang sich auf den Flügeln seiner Schwärmerey in den Mond hinauf, und vergaß darüber Welt und alle Leiden, hielt lange Gespräche mit seinem lieben Mädchen, und sah oft erst spät hernach zu seinem Verdruß seine Täuschung ein, und daß er noch auf der Welt sey. Dann schrieb er wieder Gedichte, oder kleine Aufsätze an sie nieder.
tigen Gottesdienſtes ſind. Wenn er zur Geduld im Leiden ermunterte, ſo war ſein eignes Beyſpiel die beſte Aufmunterung und Lehre, denn er war, bey ſeinem abgezehrten, matten Koͤrper immer hei- ter, wenn er mit den Leuten ſprach, und ſeufzete blos in der Stille.
War er allein, ſo war der Gedanke an den Tod und an ſeine Mariane ſein beſtaͤndiger Gefaͤhr- te. Wenn er uͤber eine Wieſe |gieng, ſo dachte er mit Sehnſucht: Vielleicht ſeh ich dieſen Ort zum letztenmal; wenn er einem Sterbenden die letzte Oelung gab, ſo dachte er: O der Gluͤckliche! Er kommt zu Gott, bey dem meine Mariane iſt. Moͤcht ich doch mit ihm mich hinlegen und ſterben! Gan- ze Stunden lang hieng ſein Aug am ſtillen melan- choliſchen Mond. Seine Phantaſie uͤberredete ihn, Marianens Seele ſey im Mond; dieſer Gedanke ward ihm oft Gewißheit, und er ſchwang ſich auf den Fluͤgeln ſeiner Schwaͤrmerey in den Mond hinauf, und vergaß daruͤber Welt und alle Leiden, hielt lange Geſpraͤche mit ſeinem lieben Maͤdchen, und ſah oft erſt ſpaͤt hernach zu ſeinem Verdruß ſeine Taͤuſchung ein, und daß er noch auf der Welt ſey. Dann ſchrieb er wieder Gedichte, oder kleine Aufſaͤtze an ſie nieder.
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tigen Gottesdienſtes ſind. Wenn er zur Geduld
im Leiden ermunterte, ſo war ſein eignes Beyſpiel
die beſte Aufmunterung und Lehre, denn er war,
bey ſeinem abgezehrten, matten Koͤrper immer hei-
ter, wenn er mit den Leuten ſprach, und ſeufzete
blos in der Stille.
War er allein, ſo war der Gedanke an den
Tod und an ſeine Mariane ſein beſtaͤndiger Gefaͤhr-
te. Wenn er uͤber eine Wieſe |gieng, ſo dachte er
mit Sehnſucht: Vielleicht ſeh ich dieſen Ort zum
letztenmal; wenn er einem Sterbenden die letzte
Oelung gab, ſo dachte er: O der Gluͤckliche! Er
kommt zu Gott, bey dem meine Mariane iſt. Moͤcht
ich doch mit ihm mich hinlegen und ſterben! Gan-
ze Stunden lang hieng ſein Aug am ſtillen melan-
choliſchen Mond. Seine Phantaſie uͤberredete ihn,
Marianens Seele ſey im Mond; dieſer Gedanke
ward ihm oft Gewißheit, und er ſchwang ſich auf
den Fluͤgeln ſeiner Schwaͤrmerey in den Mond
hinauf, und vergaß daruͤber Welt und alle Leiden,
hielt lange Geſpraͤche mit ſeinem lieben Maͤdchen,
und ſah oft erſt ſpaͤt hernach zu ſeinem Verdruß
ſeine Taͤuſchung ein, und daß er noch auf der Welt
ſey. Dann ſchrieb er wieder Gedichte, oder kleine
Aufſaͤtze an ſie nieder.
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1052. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/632>, abgerufen am 24.11.2024.
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