den kannte, deren manche Menschen in ihrem ganzen langen Leben nicht den zwanzigsten Theil davon erfahren, saß im düstersten Nachdenken da, schlug zuweilen seine Augen auf zum Himmel, un- terdrückte einen Seufzer, und dachte zitternd an die Unbegreiflichkeit der göttlichen Rathschlüsse in den Schicksalen eines Menschen. Beym Weggehen drückte ihn Siegwart feste und feuriger als ge- wöhnlich ans Herz. Bruder, sagte er, ich sahs heut, daß du meinen Zustand ganz fühlst. Bald wirds besser werden. Hab Dank für deine viele brüderliche Liebe! Jch bethe stets für dich und meine Schwester, und dein Kind. Sag ihr, mir sey wohl, und werde bald noch besser werden. Jch gehöre nun ganz Gott an, und in seiner Hand könne man nicht unglücklich seyn. Gib ihr diesen Kuß! Sag ihr nicht, daß ich schwach bin, die gu- te Seele möchte sich betrüben. Wenn du hörst, daß ich todt bin, dann tröste sie, und sag ihr, daß mir ganz wohl sey! -- Kronhelm konnte nichts spre- chen, und riß sich von ihm los. Rothfels nahm auch weinend von ihm Abschied, und die beyden reisten traurig weg.
Siegwart theilte nun seine ganze Zeit in seine Mönchsverrichtungen und in selbsterwählte An-
den kannte, deren manche Menſchen in ihrem ganzen langen Leben nicht den zwanzigſten Theil davon erfahren, ſaß im duͤſterſten Nachdenken da, ſchlug zuweilen ſeine Augen auf zum Himmel, un- terdruͤckte einen Seufzer, und dachte zitternd an die Unbegreiflichkeit der goͤttlichen Rathſchluͤſſe in den Schickſalen eines Menſchen. Beym Weggehen druͤckte ihn Siegwart feſte und feuriger als ge- woͤhnlich ans Herz. Bruder, ſagte er, ich ſahs heut, daß du meinen Zuſtand ganz fuͤhlſt. Bald wirds beſſer werden. Hab Dank fuͤr deine viele bruͤderliche Liebe! Jch bethe ſtets fuͤr dich und meine Schweſter, und dein Kind. Sag ihr, mir ſey wohl, und werde bald noch beſſer werden. Jch gehoͤre nun ganz Gott an, und in ſeiner Hand koͤnne man nicht ungluͤcklich ſeyn. Gib ihr dieſen Kuß! Sag ihr nicht, daß ich ſchwach bin, die gu- te Seele moͤchte ſich betruͤben. Wenn du hoͤrſt, daß ich todt bin, dann troͤſte ſie, und ſag ihr, daß mir ganz wohl ſey! — Kronhelm konnte nichts ſpre- chen, und riß ſich von ihm los. Rothfels nahm auch weinend von ihm Abſchied, und die beyden reiſten traurig weg.
Siegwart theilte nun ſeine ganze Zeit in ſeine Moͤnchsverrichtungen und in ſelbſterwaͤhlte An-
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den kannte, deren manche Menſchen in ihrem
ganzen langen Leben nicht den zwanzigſten Theil
davon erfahren, ſaß im duͤſterſten Nachdenken da,
ſchlug zuweilen ſeine Augen auf zum Himmel, un-
terdruͤckte einen Seufzer, und dachte zitternd an
die Unbegreiflichkeit der goͤttlichen Rathſchluͤſſe in
den Schickſalen eines Menſchen. Beym Weggehen
druͤckte ihn Siegwart feſte und feuriger als ge-
woͤhnlich ans Herz. Bruder, ſagte er, ich ſahs
heut, daß du meinen Zuſtand ganz fuͤhlſt. Bald
wirds beſſer werden. Hab Dank fuͤr deine viele
bruͤderliche Liebe! Jch bethe ſtets fuͤr dich und
meine Schweſter, und dein Kind. Sag ihr, mir
ſey wohl, und werde bald noch beſſer werden. Jch
gehoͤre nun ganz Gott an, und in ſeiner Hand
koͤnne man nicht ungluͤcklich ſeyn. Gib ihr dieſen
Kuß! Sag ihr nicht, daß ich ſchwach bin, die gu-
te Seele moͤchte ſich betruͤben. Wenn du hoͤrſt,
daß ich todt bin, dann troͤſte ſie, und ſag ihr, daß
mir ganz wohl ſey! — Kronhelm konnte nichts ſpre-
chen, und riß ſich von ihm los. Rothfels nahm
auch weinend von ihm Abſchied, und die beyden
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Siegwart theilte nun ſeine ganze Zeit in ſeine
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1050. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/630>, abgerufen am 24.11.2024.
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