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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Thränen freyen Lauf. Anton ließ ihn ausweinen,
und versuchte es nicht, ihn zu trösten. -- Ver-
zeihen Sie, sagte Siegwart, ich weine nicht um
die Welt; sie hat keine Freuden mehr für mich.
Jch habe viel gelitten, theurer Vater! ach, unaus-
sprechlich viel. Sie sollen alles wissen, aber jetzt
nicht! Jetzt kann ich nichts, als weinen. -- Ge-
trost, mein Sohn! sagte Pater Anton; Du sollst
Ruhe finden! Jch hab auch viel gelitten. Will
dirs auch erzählen. Du sollst viel aus meiner Ge-
schichte lernen. Sie ist auch traurig; aber fremde Lei-
den sind ein Trost für den Unglücklichen. Jch hab
endlich Ruh gefunden; Gott gebe sie dir auch!

Siegwart gieng auf seine Zelle, stützte sich auf
seine Hand, und dachte nun zum erstenmal wieder
an seine Mariane. Er sah alles in der Zelle an.
Gott! dachte er, in einem solchen engen, trüben
Aufenthalt hat mein Engel, die Vollendete, gedul-
det und ausgerungen. Gott! um meinetwillen! --
Gern will ich auch alles dulden. Hier auf diesem
Bette soll mein Geist den letzten Kampf kämpfen,
und sich dann, aus dieser Zelle, aufschwingen, und
auf ewig bey ihr seyn... Ewig, Ewig..! O!
was sind die Leiden dieser Zeit: Heilige, gern will
ich dulden; denn ich soll ja ewig, ewig, bey dir



Thraͤnen freyen Lauf. Anton ließ ihn ausweinen,
und verſuchte es nicht, ihn zu troͤſten. — Ver-
zeihen Sie, ſagte Siegwart, ich weine nicht um
die Welt; ſie hat keine Freuden mehr fuͤr mich.
Jch habe viel gelitten, theurer Vater! ach, unaus-
ſprechlich viel. Sie ſollen alles wiſſen, aber jetzt
nicht! Jetzt kann ich nichts, als weinen. — Ge-
troſt, mein Sohn! ſagte Pater Anton; Du ſollſt
Ruhe finden! Jch hab auch viel gelitten. Will
dirs auch erzaͤhlen. Du ſollſt viel aus meiner Ge-
ſchichte lernen. Sie iſt auch traurig; aber fremde Lei-
den ſind ein Troſt fuͤr den Ungluͤcklichen. Jch hab
endlich Ruh gefunden; Gott gebe ſie dir auch!

Siegwart gieng auf ſeine Zelle, ſtuͤtzte ſich auf
ſeine Hand, und dachte nun zum erſtenmal wieder
an ſeine Mariane. Er ſah alles in der Zelle an.
Gott! dachte er, in einem ſolchen engen, truͤben
Aufenthalt hat mein Engel, die Vollendete, gedul-
det und ausgerungen. Gott! um meinetwillen! —
Gern will ich auch alles dulden. Hier auf dieſem
Bette ſoll mein Geiſt den letzten Kampf kaͤmpfen,
und ſich dann, aus dieſer Zelle, aufſchwingen, und
auf ewig bey ihr ſeyn... Ewig, Ewig..! O!
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ich dulden; denn ich ſoll ja ewig, ewig, bey dir

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[1028/0608] Thraͤnen freyen Lauf. Anton ließ ihn ausweinen, und verſuchte es nicht, ihn zu troͤſten. — Ver- zeihen Sie, ſagte Siegwart, ich weine nicht um die Welt; ſie hat keine Freuden mehr fuͤr mich. Jch habe viel gelitten, theurer Vater! ach, unaus- ſprechlich viel. Sie ſollen alles wiſſen, aber jetzt nicht! Jetzt kann ich nichts, als weinen. — Ge- troſt, mein Sohn! ſagte Pater Anton; Du ſollſt Ruhe finden! Jch hab auch viel gelitten. Will dirs auch erzaͤhlen. Du ſollſt viel aus meiner Ge- ſchichte lernen. Sie iſt auch traurig; aber fremde Lei- den ſind ein Troſt fuͤr den Ungluͤcklichen. Jch hab endlich Ruh gefunden; Gott gebe ſie dir auch! Siegwart gieng auf ſeine Zelle, ſtuͤtzte ſich auf ſeine Hand, und dachte nun zum erſtenmal wieder an ſeine Mariane. Er ſah alles in der Zelle an. Gott! dachte er, in einem ſolchen engen, truͤben Aufenthalt hat mein Engel, die Vollendete, gedul- det und ausgerungen. Gott! um meinetwillen! — Gern will ich auch alles dulden. Hier auf dieſem Bette ſoll mein Geiſt den letzten Kampf kaͤmpfen, und ſich dann, aus dieſer Zelle, aufſchwingen, und auf ewig bey ihr ſeyn... Ewig, Ewig..! O! was ſind die Leiden dieſer Zeit: Heilige, gern will ich dulden; denn ich ſoll ja ewig, ewig, bey dir

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1028. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/608>, abgerufen am 23.11.2024.