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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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gieng zitternd auf sie zu. Gott, wie stehts?
rief er, hat die Aebtissin es entdeck? -- Ach nein,
sagte sie, die Aebtissin hat nicht das geringste ge-
merkt; aber einen andern Schrecken hat er mir
gemacht. Was muß er doch Marianen geschrie-
ben haben? Sie ward ohnmächtig, als sie den
Brief las, und ist jetzt noch sehr matt. Hätt ich
mich doch niemals damit eingelassen! Wären wir
doch schon fortgegangen! Morgen, morgen! sag-
te Siegwart hastig; aber kan denn Mariane auf
den Abend doch kommen? Sie will, antwortete
Brigitte, wenn sie Kräste genug hat. Halt er
sich nur um zehn Uhr gefaßt! Aber aus unsrer
Flucht wird nun wohl nichts werden. Jch be-
schwör ihn bey der Mutter Gottes! daß er kei-
ner Seele nichts entdeckt! Jch wär auf mein
ganzes Leben unglücklich. Siegwart suchte sie,
wegen dieser Sache, soviel als möglich, zu beru-
higen, sie wollte sich aber keinen Muth einspre-
chen lassen, und bat ihn nur, sie nicht zu ver-
rathen! Er schwur es ihr bey allen Heiligen, und
bat sie für Marianen Sorge zu tragen, und sie
auf den Abend gewiß zu bringen!

Er gieng in noch grösserer Unruhe weg, und
konnte sich ihr Betragen nicht erklären. Doch



gieng zitternd auf ſie zu. Gott, wie ſtehts?
rief er, hat die Aebtiſſin es entdeck? — Ach nein,
ſagte ſie, die Aebtiſſin hat nicht das geringſte ge-
merkt; aber einen andern Schrecken hat er mir
gemacht. Was muß er doch Marianen geſchrie-
ben haben? Sie ward ohnmaͤchtig, als ſie den
Brief las, und iſt jetzt noch ſehr matt. Haͤtt ich
mich doch niemals damit eingelaſſen! Waͤren wir
doch ſchon fortgegangen! Morgen, morgen! ſag-
te Siegwart haſtig; aber kan denn Mariane auf
den Abend doch kommen? Sie will, antwortete
Brigitte, wenn ſie Kraͤſte genug hat. Halt er
ſich nur um zehn Uhr gefaßt! Aber aus unſrer
Flucht wird nun wohl nichts werden. Jch be-
ſchwoͤr ihn bey der Mutter Gottes! daß er kei-
ner Seele nichts entdeckt! Jch waͤr auf mein
ganzes Leben ungluͤcklich. Siegwart ſuchte ſie,
wegen dieſer Sache, ſoviel als moͤglich, zu beru-
higen, ſie wollte ſich aber keinen Muth einſpre-
chen laſſen, und bat ihn nur, ſie nicht zu ver-
rathen! Er ſchwur es ihr bey allen Heiligen, und
bat ſie fuͤr Marianen Sorge zu tragen, und ſie
auf den Abend gewiß zu bringen!

Er gieng in noch groͤſſerer Unruhe weg, und
konnte ſich ihr Betragen nicht erklaͤren. Doch

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[1014/0594] gieng zitternd auf ſie zu. Gott, wie ſtehts? rief er, hat die Aebtiſſin es entdeck? — Ach nein, ſagte ſie, die Aebtiſſin hat nicht das geringſte ge- merkt; aber einen andern Schrecken hat er mir gemacht. Was muß er doch Marianen geſchrie- ben haben? Sie ward ohnmaͤchtig, als ſie den Brief las, und iſt jetzt noch ſehr matt. Haͤtt ich mich doch niemals damit eingelaſſen! Waͤren wir doch ſchon fortgegangen! Morgen, morgen! ſag- te Siegwart haſtig; aber kan denn Mariane auf den Abend doch kommen? Sie will, antwortete Brigitte, wenn ſie Kraͤſte genug hat. Halt er ſich nur um zehn Uhr gefaßt! Aber aus unſrer Flucht wird nun wohl nichts werden. Jch be- ſchwoͤr ihn bey der Mutter Gottes! daß er kei- ner Seele nichts entdeckt! Jch waͤr auf mein ganzes Leben ungluͤcklich. Siegwart ſuchte ſie, wegen dieſer Sache, ſoviel als moͤglich, zu beru- higen, ſie wollte ſich aber keinen Muth einſpre- chen laſſen, und bat ihn nur, ſie nicht zu ver- rathen! Er ſchwur es ihr bey allen Heiligen, und bat ſie fuͤr Marianen Sorge zu tragen, und ſie auf den Abend gewiß zu bringen! Er gieng in noch groͤſſerer Unruhe weg, und konnte ſich ihr Betragen nicht erklaͤren. Doch

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1014. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/594>, abgerufen am 25.11.2024.