Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



vorher der allerseligste? Siehst du nicht, daß, je
näher man dem Glück zu seyn scheint, desto näher
ist man dem unabsehlichsten Elend. Aber, lieben
Freunde, ich will jetzt euren süssen Traum nicht
stören. Jhr seyd glücklich; ihr drückt euch jetzt
mit unaussprechlicher, vorher nie gefühlter Wollust
ans Herz. Jhr glaubt jetzt im Himmel zu seyn.
Möchte dieser Himmel ewig währen, wie der,
dem sich meine ganze Seele zusehnt! Laßt nur mir
meinen Jammer! Laßt mich eilen, und mich ihn
in meiner Einsamkeit auswetnen, wo ich kein le-
bendiges und glückliches Geschöpf störe. Jch se-
he, diese Welt ist nicht für mich: oder ich bin
nicht für sie. Jch kann nicht glücklich werden;
aber ich will auch keinen unglücklich machen! Wenn
ich heute Marianens Hand bekäme -- wenn der
Engel nicht schon ausgerungen hat -- wenn sie heu-
te ganz mein würde; morgen wäre sie mir gewiß
wieder entrissen. Laßt sie mir auch viele Wochen!
Wer bürgt mir für eine Krankheit, wie die war,
die dich, meine theureste Therese, bald den Armen
meines liebsten Kronhelms entrissen hätte? Ach,
ich kann, ich kann nicht glücklich werden! Laßt
mich in mein Kloster, daß ich meine Lebenszeit
verweine! Wenn ich mich ermannen kann, komm



vorher der allerſeligſte? Siehſt du nicht, daß, je
naͤher man dem Gluͤck zu ſeyn ſcheint, deſto naͤher
iſt man dem unabſehlichſten Elend. Aber, lieben
Freunde, ich will jetzt euren ſuͤſſen Traum nicht
ſtoͤren. Jhr ſeyd gluͤcklich; ihr druͤckt euch jetzt
mit unausſprechlicher, vorher nie gefuͤhlter Wolluſt
ans Herz. Jhr glaubt jetzt im Himmel zu ſeyn.
Moͤchte dieſer Himmel ewig waͤhren, wie der,
dem ſich meine ganze Seele zuſehnt! Laßt nur mir
meinen Jammer! Laßt mich eilen, und mich ihn
in meiner Einſamkeit auswetnen, wo ich kein le-
bendiges und gluͤckliches Geſchoͤpf ſtoͤre. Jch ſe-
he, dieſe Welt iſt nicht fuͤr mich: oder ich bin
nicht fuͤr ſie. Jch kann nicht gluͤcklich werden;
aber ich will auch keinen ungluͤcklich machen! Wenn
ich heute Marianens Hand bekaͤme — wenn der
Engel nicht ſchon ausgerungen hat — wenn ſie heu-
te ganz mein wuͤrde; morgen waͤre ſie mir gewiß
wieder entriſſen. Laßt ſie mir auch viele Wochen!
Wer buͤrgt mir fuͤr eine Krankheit, wie die war,
die dich, meine theureſte Thereſe, bald den Armen
meines liebſten Kronhelms entriſſen haͤtte? Ach,
ich kann, ich kann nicht gluͤcklich werden! Laßt
mich in mein Kloſter, daß ich meine Lebenszeit
verweine! Wenn ich mich ermannen kann, komm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0563" n="983"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
vorher der aller&#x017F;elig&#x017F;te? Sieh&#x017F;t du nicht, daß, je<lb/>
na&#x0364;her man dem Glu&#x0364;ck zu &#x017F;eyn &#x017F;cheint, de&#x017F;to na&#x0364;her<lb/>
i&#x017F;t man dem unab&#x017F;ehlich&#x017F;ten Elend. Aber, lieben<lb/>
Freunde, ich will jetzt euren &#x017F;u&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Traum nicht<lb/>
&#x017F;to&#x0364;ren. Jhr &#x017F;eyd glu&#x0364;cklich; ihr dru&#x0364;ckt euch jetzt<lb/>
mit unaus&#x017F;prechlicher, vorher nie gefu&#x0364;hlter Wollu&#x017F;t<lb/>
ans Herz. Jhr glaubt jetzt im Himmel zu &#x017F;eyn.<lb/>
Mo&#x0364;chte die&#x017F;er Himmel ewig wa&#x0364;hren, wie der,<lb/>
dem &#x017F;ich meine ganze Seele zu&#x017F;ehnt! Laßt nur mir<lb/>
meinen Jammer! Laßt mich eilen, und mich ihn<lb/>
in meiner Ein&#x017F;amkeit auswetnen, wo ich kein le-<lb/>
bendiges und glu&#x0364;ckliches Ge&#x017F;cho&#x0364;pf &#x017F;to&#x0364;re. Jch &#x017F;e-<lb/>
he, die&#x017F;e Welt i&#x017F;t nicht fu&#x0364;r mich: oder ich bin<lb/>
nicht fu&#x0364;r &#x017F;ie. Jch kann nicht glu&#x0364;cklich werden;<lb/>
aber ich will auch keinen unglu&#x0364;cklich machen! Wenn<lb/>
ich heute Marianens Hand beka&#x0364;me &#x2014; wenn der<lb/>
Engel nicht &#x017F;chon ausgerungen hat &#x2014; wenn &#x017F;ie heu-<lb/>
te ganz mein wu&#x0364;rde; morgen wa&#x0364;re &#x017F;ie mir gewiß<lb/>
wieder entri&#x017F;&#x017F;en. Laßt &#x017F;ie mir auch viele Wochen!<lb/>
Wer bu&#x0364;rgt mir fu&#x0364;r eine Krankheit, wie die war,<lb/>
die dich, meine theure&#x017F;te There&#x017F;e, bald den Armen<lb/>
meines lieb&#x017F;ten Kronhelms entri&#x017F;&#x017F;en ha&#x0364;tte? Ach,<lb/>
ich kann, ich kann nicht glu&#x0364;cklich werden! Laßt<lb/>
mich in mein Klo&#x017F;ter, daß ich meine Lebenszeit<lb/>
verweine! Wenn ich mich ermannen kann, komm<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[983/0563] vorher der allerſeligſte? Siehſt du nicht, daß, je naͤher man dem Gluͤck zu ſeyn ſcheint, deſto naͤher iſt man dem unabſehlichſten Elend. Aber, lieben Freunde, ich will jetzt euren ſuͤſſen Traum nicht ſtoͤren. Jhr ſeyd gluͤcklich; ihr druͤckt euch jetzt mit unausſprechlicher, vorher nie gefuͤhlter Wolluſt ans Herz. Jhr glaubt jetzt im Himmel zu ſeyn. Moͤchte dieſer Himmel ewig waͤhren, wie der, dem ſich meine ganze Seele zuſehnt! Laßt nur mir meinen Jammer! Laßt mich eilen, und mich ihn in meiner Einſamkeit auswetnen, wo ich kein le- bendiges und gluͤckliches Geſchoͤpf ſtoͤre. Jch ſe- he, dieſe Welt iſt nicht fuͤr mich: oder ich bin nicht fuͤr ſie. Jch kann nicht gluͤcklich werden; aber ich will auch keinen ungluͤcklich machen! Wenn ich heute Marianens Hand bekaͤme — wenn der Engel nicht ſchon ausgerungen hat — wenn ſie heu- te ganz mein wuͤrde; morgen waͤre ſie mir gewiß wieder entriſſen. Laßt ſie mir auch viele Wochen! Wer buͤrgt mir fuͤr eine Krankheit, wie die war, die dich, meine theureſte Thereſe, bald den Armen meines liebſten Kronhelms entriſſen haͤtte? Ach, ich kann, ich kann nicht gluͤcklich werden! Laßt mich in mein Kloſter, daß ich meine Lebenszeit verweine! Wenn ich mich ermannen kann, komm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/563
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 983. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/563>, abgerufen am 25.11.2024.