Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



so hatten handeln müssen. Siegwart sagte, das
sey schon recht; er glaub es auch; aber er wolle
nun in die Einsiedeley, und man sollt ihn nicht
länger mehr zurückhalten! Kronhelm gestand ihm
jetzt, um ihn nur ein wenig zu beruhigen, alles
zu; bat ihn aber, wenigstens noch acht Tage bey
ihm zu bleiben, welches endlich Siegwart zuge-
stand.

Er gieng auf sein Zimmer, weinte bitterlich,
und schrieb endlich folgendes, an Marianen, nieder:

O du, bist du noch auf Erden? Duldest du
noch unterm Joch des Lebens? Schmachtet deine
Seele noch in ihrer Hülle? Oder bist du, Engel
Gottes, aufgeflogen in die Wohnstatt der Erwähl-
ten? Trinkst du schon die Sonne, die nicht unter-
geht und keine Thränen sieht? Sind sie abge-
trocknet dir von Engeln, und hast du vergessen
aller Seufzer, die die Menschheit drücken? O
du, sag, wie nenn ich dich, du Theure, du Ge-
liebte, deren Seele mein war! Schwebt dein
Geist um mich im Lichtgewande? Hörst du meine
Seufzer? Trübt ein Wölkchen deinen Sonnen-
schimmer? O so rausch mit deinen Flügeln, daß
ichs höre, und mich freue, daß dein Schmerz im
Grab liegt, daß ich hingeh auf dein Grab, und



ſo hatten handeln muͤſſen. Siegwart ſagte, das
ſey ſchon recht; er glaub es auch; aber er wolle
nun in die Einſiedeley, und man ſollt ihn nicht
laͤnger mehr zuruͤckhalten! Kronhelm geſtand ihm
jetzt, um ihn nur ein wenig zu beruhigen, alles
zu; bat ihn aber, wenigſtens noch acht Tage bey
ihm zu bleiben, welches endlich Siegwart zuge-
ſtand.

Er gieng auf ſein Zimmer, weinte bitterlich,
und ſchrieb endlich folgendes, an Marianen, nieder:

O du, biſt du noch auf Erden? Duldeſt du
noch unterm Joch des Lebens? Schmachtet deine
Seele noch in ihrer Huͤlle? Oder biſt du, Engel
Gottes, aufgeflogen in die Wohnſtatt der Erwaͤhl-
ten? Trinkſt du ſchon die Sonne, die nicht unter-
geht und keine Thraͤnen ſieht? Sind ſie abge-
trocknet dir von Engeln, und haſt du vergeſſen
aller Seufzer, die die Menſchheit druͤcken? O
du, ſag, wie nenn ich dich, du Theure, du Ge-
liebte, deren Seele mein war! Schwebt dein
Geiſt um mich im Lichtgewande? Hoͤrſt du meine
Seufzer? Truͤbt ein Woͤlkchen deinen Sonnen-
ſchimmer? O ſo rauſch mit deinen Fluͤgeln, daß
ichs hoͤre, und mich freue, daß dein Schmerz im
Grab liegt, daß ich hingeh auf dein Grab, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0554" n="974"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;o hatten handeln mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Siegwart &#x017F;agte, das<lb/>
&#x017F;ey &#x017F;chon recht; er glaub es auch; aber er wolle<lb/>
nun in die Ein&#x017F;iedeley, und man &#x017F;ollt ihn nicht<lb/>
la&#x0364;nger mehr zuru&#x0364;ckhalten! Kronhelm ge&#x017F;tand ihm<lb/>
jetzt, um ihn nur ein wenig zu beruhigen, alles<lb/>
zu; bat ihn aber, wenig&#x017F;tens noch acht Tage bey<lb/>
ihm zu bleiben, welches endlich Siegwart zuge-<lb/>
&#x017F;tand.</p><lb/>
        <p>Er gieng auf &#x017F;ein Zimmer, weinte bitterlich,<lb/>
und &#x017F;chrieb endlich folgendes, an Marianen, nieder:</p><lb/>
        <p>O du, bi&#x017F;t du noch auf Erden? Dulde&#x017F;t du<lb/>
noch unterm Joch des Lebens? Schmachtet deine<lb/>
Seele noch in ihrer Hu&#x0364;lle? Oder bi&#x017F;t du, Engel<lb/>
Gottes, aufgeflogen in die Wohn&#x017F;tatt der Erwa&#x0364;hl-<lb/>
ten? Trink&#x017F;t du &#x017F;chon die Sonne, die nicht unter-<lb/>
geht und keine Thra&#x0364;nen &#x017F;ieht? Sind &#x017F;ie abge-<lb/>
trocknet dir von Engeln, und ha&#x017F;t du verge&#x017F;&#x017F;en<lb/>
aller Seufzer, die die Men&#x017F;chheit dru&#x0364;cken? O<lb/>
du, &#x017F;ag, wie nenn ich dich, du Theure, du Ge-<lb/>
liebte, deren Seele mein war! Schwebt dein<lb/>
Gei&#x017F;t um mich im Lichtgewande? Ho&#x0364;r&#x017F;t du meine<lb/>
Seufzer? Tru&#x0364;bt ein Wo&#x0364;lkchen deinen Sonnen-<lb/>
&#x017F;chimmer? O &#x017F;o rau&#x017F;ch mit deinen Flu&#x0364;geln, daß<lb/>
ichs ho&#x0364;re, und mich freue, daß dein Schmerz im<lb/>
Grab liegt, daß ich hingeh auf dein Grab, und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[974/0554] ſo hatten handeln muͤſſen. Siegwart ſagte, das ſey ſchon recht; er glaub es auch; aber er wolle nun in die Einſiedeley, und man ſollt ihn nicht laͤnger mehr zuruͤckhalten! Kronhelm geſtand ihm jetzt, um ihn nur ein wenig zu beruhigen, alles zu; bat ihn aber, wenigſtens noch acht Tage bey ihm zu bleiben, welches endlich Siegwart zuge- ſtand. Er gieng auf ſein Zimmer, weinte bitterlich, und ſchrieb endlich folgendes, an Marianen, nieder: O du, biſt du noch auf Erden? Duldeſt du noch unterm Joch des Lebens? Schmachtet deine Seele noch in ihrer Huͤlle? Oder biſt du, Engel Gottes, aufgeflogen in die Wohnſtatt der Erwaͤhl- ten? Trinkſt du ſchon die Sonne, die nicht unter- geht und keine Thraͤnen ſieht? Sind ſie abge- trocknet dir von Engeln, und haſt du vergeſſen aller Seufzer, die die Menſchheit druͤcken? O du, ſag, wie nenn ich dich, du Theure, du Ge- liebte, deren Seele mein war! Schwebt dein Geiſt um mich im Lichtgewande? Hoͤrſt du meine Seufzer? Truͤbt ein Woͤlkchen deinen Sonnen- ſchimmer? O ſo rauſch mit deinen Fluͤgeln, daß ichs hoͤre, und mich freue, daß dein Schmerz im Grab liegt, daß ich hingeh auf dein Grab, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/554
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 974. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/554>, abgerufen am 25.11.2024.