umarmte er unsern Siegwart mit den Worten: Du bist ein edler Jüngling, und verdienst mein ganzes Mitleid. Oft war mirs bey deiner Er- zählung, als ob ich meine eigene Geschichte hör- te; nur daß diese noch schrecklicher und trauriger ist. Jch bin dir nun auch Zutrauen schuldig. Morgen sollst du meine Geschichte hören. Heut ists schon zu spät, und der Abend ist sehr kühl. Du bist müd; deine Erzählung hat dich, wie ich sehe, heftig angegriffen, und du hast des Schlafs und der Ruhe nöthig. Komm! Jch führe dich in die Kammer.
Siegwart muste, so sehr er sich auch weigerte, in der kleinen Kammer, in dem eignen Bett | des Einsiedlers schlafen. Jch schlafe draussen, sagte er, in meiner Hütte; du hast der Ruhe und der Wärme nöthiger als ich. Mach keine Umstände! Schlaf wohl! Mit diesen Worten gieng er, und ließ ihm das Licht in der Kammer.
Als Siegwart eben in das Bette gehen wollte, nahm er das Bildnis eines Mädchens wahr, das dem Bette gegen über hieng. Er betrachtete es, mit dem Licht in der Hand, genauer, und fand ein schönes, sanftes Gesicht mit schmachtenden blauen Augen, dem Wiederschein einer himmli-
umarmte er unſern Siegwart mit den Worten: Du biſt ein edler Juͤngling, und verdienſt mein ganzes Mitleid. Oft war mirs bey deiner Er- zaͤhlung, als ob ich meine eigene Geſchichte hoͤr- te; nur daß dieſe noch ſchrecklicher und trauriger iſt. Jch bin dir nun auch Zutrauen ſchuldig. Morgen ſollſt du meine Geſchichte hoͤren. Heut iſts ſchon zu ſpaͤt, und der Abend iſt ſehr kuͤhl. Du biſt muͤd; deine Erzaͤhlung hat dich, wie ich ſehe, heftig angegriffen, und du haſt des Schlafs und der Ruhe noͤthig. Komm! Jch fuͤhre dich in die Kammer.
Siegwart muſte, ſo ſehr er ſich auch weigerte, in der kleinen Kammer, in dem eignen Bett | des Einſiedlers ſchlafen. Jch ſchlafe drauſſen, ſagte er, in meiner Huͤtte; du haſt der Ruhe und der Waͤrme noͤthiger als ich. Mach keine Umſtaͤnde! Schlaf wohl! Mit dieſen Worten gieng er, und ließ ihm das Licht in der Kammer.
Als Siegwart eben in das Bette gehen wollte, nahm er das Bildnis eines Maͤdchens wahr, das dem Bette gegen uͤber hieng. Er betrachtete es, mit dem Licht in der Hand, genauer, und fand ein ſchoͤnes, ſanftes Geſicht mit ſchmachtenden blauen Augen, dem Wiederſchein einer himmli-
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umarmte er unſern Siegwart mit den Worten:
Du biſt ein edler Juͤngling, und verdienſt mein
ganzes Mitleid. Oft war mirs bey deiner Er-
zaͤhlung, als ob ich meine eigene Geſchichte hoͤr-
te; nur daß dieſe noch ſchrecklicher und trauriger
iſt. Jch bin dir nun auch Zutrauen ſchuldig.
Morgen ſollſt du meine Geſchichte hoͤren. Heut
iſts ſchon zu ſpaͤt, und der Abend iſt ſehr kuͤhl.
Du biſt muͤd; deine Erzaͤhlung hat dich, wie ich
ſehe, heftig angegriffen, und du haſt des Schlafs
und der Ruhe noͤthig. Komm! Jch fuͤhre dich
in die Kammer.
Siegwart muſte, ſo ſehr er ſich auch weigerte,
in der kleinen Kammer, in dem eignen Bett | des
Einſiedlers ſchlafen. Jch ſchlafe drauſſen, ſagte
er, in meiner Huͤtte; du haſt der Ruhe und der
Waͤrme noͤthiger als ich. Mach keine Umſtaͤnde!
Schlaf wohl! Mit dieſen Worten gieng er, und
ließ ihm das Licht in der Kammer.
Als Siegwart eben in das Bette gehen wollte,
nahm er das Bildnis eines Maͤdchens wahr, das
dem Bette gegen uͤber hieng. Er betrachtete es,
mit dem Licht in der Hand, genauer, und fand
ein ſchoͤnes, ſanftes Geſicht mit ſchmachtenden
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 946. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/526>, abgerufen am 25.11.2024.
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