nungen. Um das Haus herum war ein freyer Platz, wo etwas Küchengewächse, und auf der andern Seite einige, jung heranwachsende Frucht- bäume standen. Ein paar Kirschbäume hiengen schon voll Früchte, die, wegen der Dunkelheit des Waldes erst jetzt reiften. Siegwart konnte sich nicht zurückhalten, einige davon an den untersten Aesten abzupflücken, denn er war vom Hunger und Durst zu sehr abgemattet, und ausgemergelt. Eine halbe Stunde drauf kam endlich ein Einsiedler, in tiefen Betrachtungen verlohren, unter den dun- keln Tannen hergeschlichen. Siegwart stand ehr- erbietig auf. Der Einsiedler erstaunte, als er ei- nen Menschen in seiner Einöde wahrnahm. An- fangs war er so betroffen, daß er nicht reden konn- te. Endlich gieng er auf Siegwart freundlich zu, und sagte: Sie sind gewiß ein Unglücklicher, daß Sie in diese abgelegne Gegend kommen? Ja, ant- wortete Siegwart, ich bin verirrt, und laufe schon den ganzen Tag in diesem Wald umher. Armer Jüngling! versetzte der Einsiedler, Sie werden wol sehr abgemattet seyn? Jch will Jhnen brin- gen, was ich habe. Mit diesen Worten schloß er seine Thür auf, brachte etwas Brod und Käse
nungen. Um das Haus herum war ein freyer Platz, wo etwas Kuͤchengewaͤchſe, und auf der andern Seite einige, jung heranwachſende Frucht- baͤume ſtanden. Ein paar Kirſchbaͤume hiengen ſchon voll Fruͤchte, die, wegen der Dunkelheit des Waldes erſt jetzt reiften. Siegwart konnte ſich nicht zuruͤckhalten, einige davon an den unterſten Aeſten abzupfluͤcken, denn er war vom Hunger und Durſt zu ſehr abgemattet, und ausgemergelt. Eine halbe Stunde drauf kam endlich ein Einſiedler, in tiefen Betrachtungen verlohren, unter den dun- keln Tannen hergeſchlichen. Siegwart ſtand ehr- erbietig auf. Der Einſiedler erſtaunte, als er ei- nen Menſchen in ſeiner Einoͤde wahrnahm. An- fangs war er ſo betroffen, daß er nicht reden konn- te. Endlich gieng er auf Siegwart freundlich zu, und ſagte: Sie ſind gewiß ein Ungluͤcklicher, daß Sie in dieſe abgelegne Gegend kommen? Ja, ant- wortete Siegwart, ich bin verirrt, und laufe ſchon den ganzen Tag in dieſem Wald umher. Armer Juͤngling! verſetzte der Einſiedler, Sie werden wol ſehr abgemattet ſeyn? Jch will Jhnen brin- gen, was ich habe. Mit dieſen Worten ſchloß er ſeine Thuͤr auf, brachte etwas Brod und Kaͤſe
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nungen. Um das Haus herum war ein freyer
Platz, wo etwas Kuͤchengewaͤchſe, und auf der
andern Seite einige, jung heranwachſende Frucht-
baͤume ſtanden. Ein paar Kirſchbaͤume hiengen
ſchon voll Fruͤchte, die, wegen der Dunkelheit des
Waldes erſt jetzt reiften. Siegwart konnte ſich
nicht zuruͤckhalten, einige davon an den unterſten
Aeſten abzupfluͤcken, denn er war vom Hunger
und Durſt zu ſehr abgemattet, und ausgemergelt.
Eine halbe Stunde drauf kam endlich ein Einſiedler,
in tiefen Betrachtungen verlohren, unter den dun-
keln Tannen hergeſchlichen. Siegwart ſtand ehr-
erbietig auf. Der Einſiedler erſtaunte, als er ei-
nen Menſchen in ſeiner Einoͤde wahrnahm. An-
fangs war er ſo betroffen, daß er nicht reden konn-
te. Endlich gieng er auf Siegwart freundlich zu,
und ſagte: Sie ſind gewiß ein Ungluͤcklicher, daß
Sie in dieſe abgelegne Gegend kommen? Ja, ant-
wortete Siegwart, ich bin verirrt, und laufe ſchon
den ganzen Tag in dieſem Wald umher. Armer
Juͤngling! verſetzte der Einſiedler, Sie werden
wol ſehr abgemattet ſeyn? Jch will Jhnen brin-
gen, was ich habe. Mit dieſen Worten ſchloß er
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 942. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/522>, abgerufen am 25.11.2024.
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