Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite


Kronhelm reiste also an Ostern ab. Sein Va-
ter hatte zwar gewollt, er sollte ihn vorher noch in
Steinfeld besuchen, aber dieß war ihm unmög-
lich. Er sah alle die Vorwürfe voraus, die ihm
sein Vater wegen Theresen machen würde, und
wußte, daß er dazu unmöglich still schweigen könn-
te. Er verachtete auch seinen Vater wegen seiner
rohen, unmenschlichen Seele, und wegen seines Be-
tragens gegen ihn zu sehr, als daß er nicht seine
Gesellschaft soviel, als möglich, hätte vermeiden sol-
len. -- Bey dem herannahenden Abschied von sei-
nem innigsten und ersten Freunde, von dem Bru-
der seiner ewiggeliebten Therese, erwachte sein gan-
zer Schmerz von neuem. Die ganze Zeit über,
da er die Vorbereitungen zur Abreise machte, war
er wie betäubt; alles war todt um ihn herum;
dann überfiel ihn plötzlich wieder eine Aengstlichkeit;
er lief in einen Winkel, um allein zu seyn, und
seine Thränen auszuschütten. Er erschrack, wenn
er allein war, und Siegwart ungefähr aufs Zim-
mer kommen seh, und Zähren schossen ihm in die
Augen. Den Tag vor seiner Abreise gieng er zu
Grünbach, um von ihm Abschied zu nehmen. So
viel er auch auf ihn hielt; so fühlte er doch nichts da-
bey, und ward nicht im mindesten bewegt. Unten in



Kronhelm reiſte alſo an Oſtern ab. Sein Va-
ter hatte zwar gewollt, er ſollte ihn vorher noch in
Steinfeld beſuchen, aber dieß war ihm unmoͤg-
lich. Er ſah alle die Vorwuͤrfe voraus, die ihm
ſein Vater wegen Thereſen machen wuͤrde, und
wußte, daß er dazu unmoͤglich ſtill ſchweigen koͤnn-
te. Er verachtete auch ſeinen Vater wegen ſeiner
rohen, unmenſchlichen Seele, und wegen ſeines Be-
tragens gegen ihn zu ſehr, als daß er nicht ſeine
Geſellſchaft ſoviel, als moͤglich, haͤtte vermeiden ſol-
len. — Bey dem herannahenden Abſchied von ſei-
nem innigſten und erſten Freunde, von dem Bru-
der ſeiner ewiggeliebten Thereſe, erwachte ſein gan-
zer Schmerz von neuem. Die ganze Zeit uͤber,
da er die Vorbereitungen zur Abreiſe machte, war
er wie betaͤubt; alles war todt um ihn herum;
dann uͤberfiel ihn ploͤtzlich wieder eine Aengſtlichkeit;
er lief in einen Winkel, um allein zu ſeyn, und
ſeine Thraͤnen auszuſchuͤtten. Er erſchrack, wenn
er allein war, und Siegwart ungefaͤhr aufs Zim-
mer kommen ſeh, und Zaͤhren ſchoſſen ihm in die
Augen. Den Tag vor ſeiner Abreiſe gieng er zu
Gruͤnbach, um von ihm Abſchied zu nehmen. So
viel er auch auf ihn hielt; ſo fuͤhlte er doch nichts da-
bey, und ward nicht im mindeſten bewegt. Unten in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0052" n="472"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Kronhelm rei&#x017F;te al&#x017F;o an O&#x017F;tern ab. Sein Va-<lb/>
ter hatte zwar gewollt, er &#x017F;ollte ihn vorher noch in<lb/>
Steinfeld be&#x017F;uchen, aber dieß war ihm unmo&#x0364;g-<lb/>
lich. Er &#x017F;ah alle die Vorwu&#x0364;rfe voraus, die ihm<lb/>
&#x017F;ein Vater wegen <hi rendition="#fr">There&#x017F;en</hi> machen wu&#x0364;rde, und<lb/>
wußte, daß er dazu unmo&#x0364;glich &#x017F;till &#x017F;chweigen ko&#x0364;nn-<lb/>
te. Er verachtete auch &#x017F;einen Vater wegen &#x017F;einer<lb/>
rohen, unmen&#x017F;chlichen Seele, und wegen &#x017F;eines Be-<lb/>
tragens gegen ihn zu &#x017F;ehr, als daß er nicht &#x017F;eine<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;oviel, als mo&#x0364;glich, ha&#x0364;tte vermeiden &#x017F;ol-<lb/>
len. &#x2014; Bey dem herannahenden Ab&#x017F;chied von &#x017F;ei-<lb/>
nem innig&#x017F;ten und er&#x017F;ten Freunde, von dem Bru-<lb/>
der &#x017F;einer ewiggeliebten There&#x017F;e, erwachte &#x017F;ein gan-<lb/>
zer Schmerz von neuem. Die ganze Zeit u&#x0364;ber,<lb/>
da er die Vorbereitungen zur Abrei&#x017F;e machte, war<lb/>
er wie beta&#x0364;ubt; alles war todt um ihn herum;<lb/>
dann u&#x0364;berfiel ihn plo&#x0364;tzlich wieder eine Aeng&#x017F;tlichkeit;<lb/>
er lief in einen Winkel, um allein zu &#x017F;eyn, und<lb/>
&#x017F;eine Thra&#x0364;nen auszu&#x017F;chu&#x0364;tten. Er er&#x017F;chrack, wenn<lb/>
er allein war, und Siegwart ungefa&#x0364;hr aufs Zim-<lb/>
mer kommen &#x017F;eh, und Za&#x0364;hren &#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en ihm in die<lb/>
Augen. Den Tag vor &#x017F;einer Abrei&#x017F;e gieng er zu<lb/><hi rendition="#fr">Gru&#x0364;nbach,</hi> um von ihm Ab&#x017F;chied zu nehmen. So<lb/>
viel er auch auf ihn hielt; &#x017F;o fu&#x0364;hlte er doch nichts da-<lb/>
bey, und ward nicht im minde&#x017F;ten bewegt. Unten in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[472/0052] Kronhelm reiſte alſo an Oſtern ab. Sein Va- ter hatte zwar gewollt, er ſollte ihn vorher noch in Steinfeld beſuchen, aber dieß war ihm unmoͤg- lich. Er ſah alle die Vorwuͤrfe voraus, die ihm ſein Vater wegen Thereſen machen wuͤrde, und wußte, daß er dazu unmoͤglich ſtill ſchweigen koͤnn- te. Er verachtete auch ſeinen Vater wegen ſeiner rohen, unmenſchlichen Seele, und wegen ſeines Be- tragens gegen ihn zu ſehr, als daß er nicht ſeine Geſellſchaft ſoviel, als moͤglich, haͤtte vermeiden ſol- len. — Bey dem herannahenden Abſchied von ſei- nem innigſten und erſten Freunde, von dem Bru- der ſeiner ewiggeliebten Thereſe, erwachte ſein gan- zer Schmerz von neuem. Die ganze Zeit uͤber, da er die Vorbereitungen zur Abreiſe machte, war er wie betaͤubt; alles war todt um ihn herum; dann uͤberfiel ihn ploͤtzlich wieder eine Aengſtlichkeit; er lief in einen Winkel, um allein zu ſeyn, und ſeine Thraͤnen auszuſchuͤtten. Er erſchrack, wenn er allein war, und Siegwart ungefaͤhr aufs Zim- mer kommen ſeh, und Zaͤhren ſchoſſen ihm in die Augen. Den Tag vor ſeiner Abreiſe gieng er zu Gruͤnbach, um von ihm Abſchied zu nehmen. So viel er auch auf ihn hielt; ſo fuͤhlte er doch nichts da- bey, und ward nicht im mindeſten bewegt. Unten in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/52
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/52>, abgerufen am 22.11.2024.