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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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unentbehrlich zu seyn, und thun zu dürfen, was
sie wollen. Wenn man sie des Diensts entlassen
will, so trotzen sie; und thut mans nicht, so
machen sie Klatschereyen, und bürden ihrer Herr-
schaft mehr auf, als wahr ist. Jch weis, mein
Liebster! Sie nehmen mir diese Erinnerung nicht
übel. Nicht wahr? -- Siegwart fiel ihr um
den Hals, und küßte sie mit Thränen. Er mach-
te sich wegen seiner Zaghaftigkeit selbst Vorwürfe,
und fühlte, daß ein Frauenzimmer, in Absicht auf
die Liebe, mehr Unternehmungsgeist, und mehr
edles Vertrauen hat, als ein Mann. Der Mann
verläßt sich auf Stärke und aufs Geraddurchfah-
ren, welches bey der Liebe wenig thut; das Weib
baut auf Klugheit und Verschlagenheit, und tau-
send Weiberkünste. Bald werden wir uns recht
geniessen können, sagte Mariane. Jn wenig Ta-
gen geht mein Vater mit meiner Schwägerin ins
Abacherbad bey Regensburg, und bleibt 5 oder
6 Wochen da. Jch gehe dann mit meiner Freun-
din aufs Land zu ihrer Tante, einer herzlichguten
Frau. Das Guth liegt nur eine kleine Meile von
hier, und Sie können täglich hinauskommen, wenn
Sie wollen. O, das ist herrlich! sagte Siegwart;
da wollen wir ein Götterleben führen! Sie haben



unentbehrlich zu ſeyn, und thun zu duͤrfen, was
ſie wollen. Wenn man ſie des Dienſts entlaſſen
will, ſo trotzen ſie; und thut mans nicht, ſo
machen ſie Klatſchereyen, und buͤrden ihrer Herr-
ſchaft mehr auf, als wahr iſt. Jch weis, mein
Liebſter! Sie nehmen mir dieſe Erinnerung nicht
uͤbel. Nicht wahr? — Siegwart fiel ihr um
den Hals, und kuͤßte ſie mit Thraͤnen. Er mach-
te ſich wegen ſeiner Zaghaftigkeit ſelbſt Vorwuͤrfe,
und fuͤhlte, daß ein Frauenzimmer, in Abſicht auf
die Liebe, mehr Unternehmungsgeiſt, und mehr
edles Vertrauen hat, als ein Mann. Der Mann
verlaͤßt ſich auf Staͤrke und aufs Geraddurchfah-
ren, welches bey der Liebe wenig thut; das Weib
baut auf Klugheit und Verſchlagenheit, und tau-
ſend Weiberkuͤnſte. Bald werden wir uns recht
genieſſen koͤnnen, ſagte Mariane. Jn wenig Ta-
gen geht mein Vater mit meiner Schwaͤgerin ins
Abacherbad bey Regensburg, und bleibt 5 oder
6 Wochen da. Jch gehe dann mit meiner Freun-
din aufs Land zu ihrer Tante, einer herzlichguten
Frau. Das Guth liegt nur eine kleine Meile von
hier, und Sie koͤnnen taͤglich hinauskommen, wenn
Sie wollen. O, das iſt herrlich! ſagte Siegwart;
da wollen wir ein Goͤtterleben fuͤhren! Sie haben

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[830/0410] unentbehrlich zu ſeyn, und thun zu duͤrfen, was ſie wollen. Wenn man ſie des Dienſts entlaſſen will, ſo trotzen ſie; und thut mans nicht, ſo machen ſie Klatſchereyen, und buͤrden ihrer Herr- ſchaft mehr auf, als wahr iſt. Jch weis, mein Liebſter! Sie nehmen mir dieſe Erinnerung nicht uͤbel. Nicht wahr? — Siegwart fiel ihr um den Hals, und kuͤßte ſie mit Thraͤnen. Er mach- te ſich wegen ſeiner Zaghaftigkeit ſelbſt Vorwuͤrfe, und fuͤhlte, daß ein Frauenzimmer, in Abſicht auf die Liebe, mehr Unternehmungsgeiſt, und mehr edles Vertrauen hat, als ein Mann. Der Mann verlaͤßt ſich auf Staͤrke und aufs Geraddurchfah- ren, welches bey der Liebe wenig thut; das Weib baut auf Klugheit und Verſchlagenheit, und tau- ſend Weiberkuͤnſte. Bald werden wir uns recht genieſſen koͤnnen, ſagte Mariane. Jn wenig Ta- gen geht mein Vater mit meiner Schwaͤgerin ins Abacherbad bey Regensburg, und bleibt 5 oder 6 Wochen da. Jch gehe dann mit meiner Freun- din aufs Land zu ihrer Tante, einer herzlichguten Frau. Das Guth liegt nur eine kleine Meile von hier, und Sie koͤnnen taͤglich hinauskommen, wenn Sie wollen. O, das iſt herrlich! ſagte Siegwart; da wollen wir ein Goͤtterleben fuͤhren! Sie haben

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 830. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/410>, abgerufen am 22.11.2024.