für glücklich, weil es die waren, die er so unaus- sprechlich liebte. Aber dann empfand er sein eig- nes Unglück nur wieder desto stärker, wenn er die Kluft sah, die zwischen ihm und seinen Freunden war; wenn er die Donnerwolke sah, die über ihm und Marianen hieng, und schon herabzudonnern anfieng, und dort die Flur im hellen Sonnenschein, auf der seine Lieben ruhig wandelten. Oft ward er etwas ungeduldig, und rief: Gott, warum ich allein mit Marianen elend, und die andern überschwenglich glücklich? Dann machte er sich sel- ber wieder Vorwürfe: Gott, vergib mir diesen Un- muth! Ach, bewahre mich vor Ungeduld und Murren; vor Neid und Misgunst! Laß mich über meiner Freunde Glück sich freuen, wenn ich schon für mich nicht glücklich bin! -- Dann schrieb er ihnen diesen Brief:
Unaussprechlich theure Seelen!
Jhr vergebt mir, wenn ich nicht frohlocken kann. Meine Seele freut sich Eures Glücks, das wist Jhr; aber meine Freude ist so düster, wie mein Schick- sal. O Geliebteste, Gott segne Eure Liebe! Mach Euch zu den Glücklichsten auf Erden! Jhr verdient es. Wohl Euch, daß der Herr die Thränen
fuͤr gluͤcklich, weil es die waren, die er ſo unaus- ſprechlich liebte. Aber dann empfand er ſein eig- nes Ungluͤck nur wieder deſto ſtaͤrker, wenn er die Kluft ſah, die zwiſchen ihm und ſeinen Freunden war; wenn er die Donnerwolke ſah, die uͤber ihm und Marianen hieng, und ſchon herabzudonnern anfieng, und dort die Flur im hellen Sonnenſchein, auf der ſeine Lieben ruhig wandelten. Oft ward er etwas ungeduldig, und rief: Gott, warum ich allein mit Marianen elend, und die andern uͤberſchwenglich gluͤcklich? Dann machte er ſich ſel- ber wieder Vorwuͤrfe: Gott, vergib mir dieſen Un- muth! Ach, bewahre mich vor Ungeduld und Murren; vor Neid und Misgunſt! Laß mich uͤber meiner Freunde Gluͤck ſich freuen, wenn ich ſchon fuͤr mich nicht gluͤcklich bin! — Dann ſchrieb er ihnen dieſen Brief:
Unausſprechlich theure Seelen!
Jhr vergebt mir, wenn ich nicht frohlocken kann. Meine Seele freut ſich Eures Gluͤcks, das wiſt Jhr; aber meine Freude iſt ſo duͤſter, wie mein Schick- ſal. O Geliebteſte, Gott ſegne Eure Liebe! Mach Euch zu den Gluͤcklichſten auf Erden! Jhr verdient es. Wohl Euch, daß der Herr die Thraͤnen
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fuͤr gluͤcklich, weil es die waren, die er ſo unaus-
ſprechlich liebte. Aber dann empfand er ſein eig-
nes Ungluͤck nur wieder deſto ſtaͤrker, wenn er die
Kluft ſah, die zwiſchen ihm und ſeinen Freunden
war; wenn er die Donnerwolke ſah, die uͤber ihm
und Marianen hieng, und ſchon herabzudonnern
anfieng, und dort die Flur im hellen Sonnenſchein,
auf der ſeine Lieben ruhig wandelten. Oft ward
er etwas ungeduldig, und rief: Gott, warum
ich allein mit Marianen elend, und die andern
uͤberſchwenglich gluͤcklich? Dann machte er ſich ſel-
ber wieder Vorwuͤrfe: Gott, vergib mir dieſen Un-
muth! Ach, bewahre mich vor Ungeduld und
Murren; vor Neid und Misgunſt! Laß mich uͤber
meiner Freunde Gluͤck ſich freuen, wenn ich ſchon
fuͤr mich nicht gluͤcklich bin! — Dann ſchrieb er
ihnen dieſen Brief:
Unausſprechlich theure Seelen!
Jhr vergebt mir, wenn ich nicht frohlocken kann.
Meine Seele freut ſich Eures Gluͤcks, das wiſt Jhr;
aber meine Freude iſt ſo duͤſter, wie mein Schick-
ſal. O Geliebteſte, Gott ſegne Eure Liebe! Mach
Euch zu den Gluͤcklichſten auf Erden! Jhr verdient
es. Wohl Euch, daß der Herr die Thraͤnen
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 797. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/377>, abgerufen am 22.11.2024.
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