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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Zustand zu Hause war der grausamste. Gott, was
ist das? dachte er, und sann hin und her, was
sich zugetragen haben möchte? Seine Einbildungs-
kraft stellte ihm alles Fürchterliche vor. Er sah
nichts als Trennung und Elend vor sich. Maria-
nen hielt er schon für verlohren; nur die Art, wie
sies wäre? war ihm noch ein Räthsel. Die ganze
Nacht konnte er nicht schlafen. Tausend Schrecken
standen vor ihm; und, wenn er die Augen zuschloß,
sah er Blut und Tod. Oft fuhr er auf, und schlug
sich vor die Stirne; wälzte sich im Bette hin und
her, stand auf, legte sich wieder, und ächzte,
wie ein Sterbender. Endlich erweichte sich die er-
müdete Natur zu Thränen. Seine Seufzer wur-
den nun Gebet und heisses Flehen. Mit dem Tag
stand er wieder auf, und sah aus dem Fenster nach
dem Wetter, ob es gut bleiben würde? Der Him-
mel war etwas umzogen, aber nach und nach hellte
er sich auf, so daß er hoffen konnte, Marianen heut
zu sehen. Den ganzen Morgen sann er wieder
nach, worüber Mariane so bestürzt seyn möchte?
Zuweilen dachte er an Kronhelm und seine Therese.
Hier fand er wieder neuen Stoff zur Unruh. Er
war noch nicht mit sich einig, ob er seiner Schwe-
ster Kronhelms Brief schicken, oder sie in ihrer fro-



Zuſtand zu Hauſe war der grauſamſte. Gott, was
iſt das? dachte er, und ſann hin und her, was
ſich zugetragen haben moͤchte? Seine Einbildungs-
kraft ſtellte ihm alles Fuͤrchterliche vor. Er ſah
nichts als Trennung und Elend vor ſich. Maria-
nen hielt er ſchon fuͤr verlohren; nur die Art, wie
ſies waͤre? war ihm noch ein Raͤthſel. Die ganze
Nacht konnte er nicht ſchlafen. Tauſend Schrecken
ſtanden vor ihm; und, wenn er die Augen zuſchloß,
ſah er Blut und Tod. Oft fuhr er auf, und ſchlug
ſich vor die Stirne; waͤlzte ſich im Bette hin und
her, ſtand auf, legte ſich wieder, und aͤchzte,
wie ein Sterbender. Endlich erweichte ſich die er-
muͤdete Natur zu Thraͤnen. Seine Seufzer wur-
den nun Gebet und heiſſes Flehen. Mit dem Tag
ſtand er wieder auf, und ſah aus dem Fenſter nach
dem Wetter, ob es gut bleiben wuͤrde? Der Him-
mel war etwas umzogen, aber nach und nach hellte
er ſich auf, ſo daß er hoffen konnte, Marianen heut
zu ſehen. Den ganzen Morgen ſann er wieder
nach, woruͤber Mariane ſo beſtuͤrzt ſeyn moͤchte?
Zuweilen dachte er an Kronhelm und ſeine Thereſe.
Hier fand er wieder neuen Stoff zur Unruh. Er
war noch nicht mit ſich einig, ob er ſeiner Schwe-
ſter Kronhelms Brief ſchicken, oder ſie in ihrer fro-

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[783/0363] Zuſtand zu Hauſe war der grauſamſte. Gott, was iſt das? dachte er, und ſann hin und her, was ſich zugetragen haben moͤchte? Seine Einbildungs- kraft ſtellte ihm alles Fuͤrchterliche vor. Er ſah nichts als Trennung und Elend vor ſich. Maria- nen hielt er ſchon fuͤr verlohren; nur die Art, wie ſies waͤre? war ihm noch ein Raͤthſel. Die ganze Nacht konnte er nicht ſchlafen. Tauſend Schrecken ſtanden vor ihm; und, wenn er die Augen zuſchloß, ſah er Blut und Tod. Oft fuhr er auf, und ſchlug ſich vor die Stirne; waͤlzte ſich im Bette hin und her, ſtand auf, legte ſich wieder, und aͤchzte, wie ein Sterbender. Endlich erweichte ſich die er- muͤdete Natur zu Thraͤnen. Seine Seufzer wur- den nun Gebet und heiſſes Flehen. Mit dem Tag ſtand er wieder auf, und ſah aus dem Fenſter nach dem Wetter, ob es gut bleiben wuͤrde? Der Him- mel war etwas umzogen, aber nach und nach hellte er ſich auf, ſo daß er hoffen konnte, Marianen heut zu ſehen. Den ganzen Morgen ſann er wieder nach, woruͤber Mariane ſo beſtuͤrzt ſeyn moͤchte? Zuweilen dachte er an Kronhelm und ſeine Thereſe. Hier fand er wieder neuen Stoff zur Unruh. Er war noch nicht mit ſich einig, ob er ſeiner Schwe- ſter Kronhelms Brief ſchicken, oder ſie in ihrer fro-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 783. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/363>, abgerufen am 25.11.2024.