Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.Sie weit von hier wären, und da ward ich trau- rig und weinte. Vorgestern und gestern Abend sah ich unaufhörlich aus dem Fenster, ob Sie noch nicht kommen? und als ich mich in meiner Er- wartung betrogen fand, hatt ich tausenderley trau- rige Vorstellungen, daß Jhnen ein Unglück be- gegnet seyn möchte. So oft ich in der Ferne ein Pferd kommen hörte, fing mein Herz laut zu schlagen an, weil ich dachte, nun kommt er. Heut, als ich Sie kommen sah, war ich so ausser aller Fassung, daß ich fürchte, meine Mutter habe es gemerkt. Das Beste ist, daß sie auch aus dem Fen- ster sah, und also meine Bewegung nicht wahr- nehmen konnte. -- Er schloß sie fester an sein Herz, und belohnte mit dem heissen Kuß der Liebe ihre Zärtlichkeit. Dann fragte sie, was Kronhelm ausgerichtet habe? und freute sich über die frohen Aussichten, die er hatte. -- Alles Glück der Zärtlichkeit ergoß sich diesen Abend über unsre beyde Liebende. Sie empfanden die Seligkeit, ein- ander zu besitzen, nun noch mehr, weil die kurze Trennung sie gelehrt hatte, wie unentbehrlich eins dem andern sey. Marianens Bruder kam ihnen nur allzufrüh, nach Haus, und das Gespräch ward gleichgültiger, ausser daß die Liebenden sich zuwei- Sie weit von hier waͤren, und da ward ich trau- rig und weinte. Vorgeſtern und geſtern Abend ſah ich unaufhoͤrlich aus dem Fenſter, ob Sie noch nicht kommen? und als ich mich in meiner Er- wartung betrogen fand, hatt ich tauſenderley trau- rige Vorſtellungen, daß Jhnen ein Ungluͤck be- gegnet ſeyn moͤchte. So oft ich in der Ferne ein Pferd kommen hoͤrte, fing mein Herz laut zu ſchlagen an, weil ich dachte, nun kommt er. Heut, als ich Sie kommen ſah, war ich ſo auſſer aller Faſſung, daß ich fuͤrchte, meine Mutter habe es gemerkt. Das Beſte iſt, daß ſie auch aus dem Fen- ſter ſah, und alſo meine Bewegung nicht wahr- nehmen konnte. — Er ſchloß ſie feſter an ſein Herz, und belohnte mit dem heiſſen Kuß der Liebe ihre Zaͤrtlichkeit. Dann fragte ſie, was Kronhelm ausgerichtet habe? und freute ſich uͤber die frohen Ausſichten, die er hatte. — Alles Gluͤck der Zaͤrtlichkeit ergoß ſich dieſen Abend uͤber unſre beyde Liebende. Sie empfanden die Seligkeit, ein- ander zu beſitzen, nun noch mehr, weil die kurze Trennung ſie gelehrt hatte, wie unentbehrlich eins dem andern ſey. Marianens Bruder kam ihnen nur allzufruͤh, nach Haus, und das Geſpraͤch ward gleichguͤltiger, auſſer daß die Liebenden ſich zuwei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0321" n="741"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> Sie weit von hier waͤren, und da ward ich trau-<lb/> rig und weinte. Vorgeſtern und geſtern Abend<lb/> ſah ich unaufhoͤrlich aus dem Fenſter, ob Sie noch<lb/> nicht kommen? und als ich mich in meiner Er-<lb/> wartung betrogen fand, hatt ich tauſenderley trau-<lb/> rige Vorſtellungen, daß Jhnen ein Ungluͤck be-<lb/> gegnet ſeyn moͤchte. So oft ich in der Ferne ein<lb/> Pferd kommen hoͤrte, fing mein Herz laut zu<lb/> ſchlagen an, weil ich dachte, nun kommt er. Heut,<lb/> als ich Sie kommen ſah, war ich ſo auſſer aller<lb/> Faſſung, daß ich fuͤrchte, meine Mutter habe es<lb/> gemerkt. Das Beſte iſt, daß ſie auch aus dem Fen-<lb/> ſter ſah, und alſo meine Bewegung nicht wahr-<lb/> nehmen konnte. — Er ſchloß ſie feſter an ſein<lb/> Herz, und belohnte mit dem heiſſen Kuß der Liebe<lb/> ihre Zaͤrtlichkeit. Dann fragte ſie, was Kronhelm<lb/> ausgerichtet habe? und freute ſich uͤber die frohen<lb/> Ausſichten, die er hatte. — Alles Gluͤck der<lb/> Zaͤrtlichkeit ergoß ſich dieſen Abend uͤber unſre<lb/> beyde Liebende. Sie empfanden die Seligkeit, ein-<lb/> ander zu beſitzen, nun noch mehr, weil die kurze<lb/> Trennung ſie gelehrt hatte, wie unentbehrlich eins<lb/> dem andern ſey. Marianens Bruder kam ihnen<lb/> nur allzufruͤh, nach Haus, und das Geſpraͤch ward<lb/> gleichguͤltiger, auſſer daß die Liebenden ſich zuwei-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [741/0321]
Sie weit von hier waͤren, und da ward ich trau-
rig und weinte. Vorgeſtern und geſtern Abend
ſah ich unaufhoͤrlich aus dem Fenſter, ob Sie noch
nicht kommen? und als ich mich in meiner Er-
wartung betrogen fand, hatt ich tauſenderley trau-
rige Vorſtellungen, daß Jhnen ein Ungluͤck be-
gegnet ſeyn moͤchte. So oft ich in der Ferne ein
Pferd kommen hoͤrte, fing mein Herz laut zu
ſchlagen an, weil ich dachte, nun kommt er. Heut,
als ich Sie kommen ſah, war ich ſo auſſer aller
Faſſung, daß ich fuͤrchte, meine Mutter habe es
gemerkt. Das Beſte iſt, daß ſie auch aus dem Fen-
ſter ſah, und alſo meine Bewegung nicht wahr-
nehmen konnte. — Er ſchloß ſie feſter an ſein
Herz, und belohnte mit dem heiſſen Kuß der Liebe
ihre Zaͤrtlichkeit. Dann fragte ſie, was Kronhelm
ausgerichtet habe? und freute ſich uͤber die frohen
Ausſichten, die er hatte. — Alles Gluͤck der
Zaͤrtlichkeit ergoß ſich dieſen Abend uͤber unſre
beyde Liebende. Sie empfanden die Seligkeit, ein-
ander zu beſitzen, nun noch mehr, weil die kurze
Trennung ſie gelehrt hatte, wie unentbehrlich eins
dem andern ſey. Marianens Bruder kam ihnen
nur allzufruͤh, nach Haus, und das Geſpraͤch ward
gleichguͤltiger, auſſer daß die Liebenden ſich zuwei-
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