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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sich Jahre lang nicht gesehen hätten. Gern wären
beyde einander in die Arme geflogen, und hätten
sich ans Herz gedrückt, wenn nicht die Gegenwart
des Vaters sie zurückgehalten hätte. Kronhelm und
Siegwart musten viel von München, von der
Prozession, und der Trauermusik erzählen. Ma-
riane hieng an den Augen ihres Jünglings, wie
die Seele eines Jnbrünstigbetenden am Krucifix.
Sie schenkte ihm Kaffee ein. Er bemerkte die
Stelle, wo sie die Schaale gehalten hatte, und
drückte sie, mit einem Blick auf seinen Engel, an
den Mund. Nach einer halben Stunde gieng der
Hofrath auch zu seiner Schwiegertochter, und ent-
schuldigte sich bey Kronhelm und Siegwart, daß er
sie allein lassen müsse. Mariane leuchtete ihrem
Vater die Treppe hinunter. Als sie wieder zurück
kam, sah sie ihren Siegwart zärtlich an, gab ihm
die Hand, und sank in seinen Arm. Er konnte
vor Entzücken so wenig sprechen, als sie. Nur
Küsse und seelenvolle Blicke drückten die Empfin-
dungen ihrer Herzen aus. -- Haben Sie zuwei-
len auch an mich gedacht? fragte Siegwart endlich.
Jmmer, immer! gab sie zur Antwort. Jch sah
hundertmal des Tags nach Jhrem Fenster, ob ich
Sie nicht sehe? Und dann fiel mir erst ein, daß



ſich Jahre lang nicht geſehen haͤtten. Gern waͤren
beyde einander in die Arme geflogen, und haͤtten
ſich ans Herz gedruͤckt, wenn nicht die Gegenwart
des Vaters ſie zuruͤckgehalten haͤtte. Kronhelm und
Siegwart muſten viel von Muͤnchen, von der
Prozeſſion, und der Trauermuſik erzaͤhlen. Ma-
riane hieng an den Augen ihres Juͤnglings, wie
die Seele eines Jnbruͤnſtigbetenden am Krucifix.
Sie ſchenkte ihm Kaffee ein. Er bemerkte die
Stelle, wo ſie die Schaale gehalten hatte, und
druͤckte ſie, mit einem Blick auf ſeinen Engel, an
den Mund. Nach einer halben Stunde gieng der
Hofrath auch zu ſeiner Schwiegertochter, und ent-
ſchuldigte ſich bey Kronhelm und Siegwart, daß er
ſie allein laſſen muͤſſe. Mariane leuchtete ihrem
Vater die Treppe hinunter. Als ſie wieder zuruͤck
kam, ſah ſie ihren Siegwart zaͤrtlich an, gab ihm
die Hand, und ſank in ſeinen Arm. Er konnte
vor Entzuͤcken ſo wenig ſprechen, als ſie. Nur
Kuͤſſe und ſeelenvolle Blicke druͤckten die Empfin-
dungen ihrer Herzen aus. — Haben Sie zuwei-
len auch an mich gedacht? fragte Siegwart endlich.
Jmmer, immer! gab ſie zur Antwort. Jch ſah
hundertmal des Tags nach Jhrem Fenſter, ob ich
Sie nicht ſehe? Und dann fiel mir erſt ein, daß

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[740/0320] ſich Jahre lang nicht geſehen haͤtten. Gern waͤren beyde einander in die Arme geflogen, und haͤtten ſich ans Herz gedruͤckt, wenn nicht die Gegenwart des Vaters ſie zuruͤckgehalten haͤtte. Kronhelm und Siegwart muſten viel von Muͤnchen, von der Prozeſſion, und der Trauermuſik erzaͤhlen. Ma- riane hieng an den Augen ihres Juͤnglings, wie die Seele eines Jnbruͤnſtigbetenden am Krucifix. Sie ſchenkte ihm Kaffee ein. Er bemerkte die Stelle, wo ſie die Schaale gehalten hatte, und druͤckte ſie, mit einem Blick auf ſeinen Engel, an den Mund. Nach einer halben Stunde gieng der Hofrath auch zu ſeiner Schwiegertochter, und ent- ſchuldigte ſich bey Kronhelm und Siegwart, daß er ſie allein laſſen muͤſſe. Mariane leuchtete ihrem Vater die Treppe hinunter. Als ſie wieder zuruͤck kam, ſah ſie ihren Siegwart zaͤrtlich an, gab ihm die Hand, und ſank in ſeinen Arm. Er konnte vor Entzuͤcken ſo wenig ſprechen, als ſie. Nur Kuͤſſe und ſeelenvolle Blicke druͤckten die Empfin- dungen ihrer Herzen aus. — Haben Sie zuwei- len auch an mich gedacht? fragte Siegwart endlich. Jmmer, immer! gab ſie zur Antwort. Jch ſah hundertmal des Tags nach Jhrem Fenſter, ob ich Sie nicht ſehe? Und dann fiel mir erſt ein, daß

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/320>, abgerufen am 22.11.2024.