Kronhelm schickte seinen Bedienten dahin, und ließ ihn zu seiner Schwester zum Mittags- essen bitten. Er ward von ihr gütig aufgenommen. Sie war ein Frauenzimmer von 25 oder 26 Jah- ren, das in den Gesichtszügen, das feine weibliche abgerechnet, ihrem Bruder ganz ähnlich sah. Sie hatte viel Anmuth in der Miene, etwas schwärme- risches im Auge, und viele Lebhaftigkeit und Mun- terkeit in ihrem Wesen. Jhr Mann war auch da; er war schon in den dreyssigen, hatte eine ziemlich angenehme Bildung, die er aber durch ein ange- nommnes, kaltes, steifes Wesen sehr verstellte. Sein Betragen gegen Siegwart war höflich, aber doch von einer Feyerlichkeit und Entfernung begleitet, die alles Zutrauen verbannte. Vor Tisch wurden die Kinder ins Zimmer gebracht, zwey Mädchen von 6 und 7 Jahren, und ein Knabe von 9 Jahren, die wie junge Engel aussahen. Sie musten etwas französisch plappern, aber mit Siegwart sprach der Knabe deutsch, fragte ihn alles, wo er herkomme? wie er heisse: Ob er auch einen Papa, und auch eine liebe Mama habe? u.s.w. Dann erzählte er allerley Ge- schichten von sich und seinen Schwestern, von ih- ren Puppen, von seinen zinnernen Soldaten, die er herholte und in Schlachtordnung stellte. Sieg-
Kronhelm ſchickte ſeinen Bedienten dahin, und ließ ihn zu ſeiner Schweſter zum Mittags- eſſen bitten. Er ward von ihr guͤtig aufgenommen. Sie war ein Frauenzimmer von 25 oder 26 Jah- ren, das in den Geſichtszuͤgen, das feine weibliche abgerechnet, ihrem Bruder ganz aͤhnlich ſah. Sie hatte viel Anmuth in der Miene, etwas ſchwaͤrme- riſches im Auge, und viele Lebhaftigkeit und Mun- terkeit in ihrem Weſen. Jhr Mann war auch da; er war ſchon in den dreyſſigen, hatte eine ziemlich angenehme Bildung, die er aber durch ein ange- nommnes, kaltes, ſteifes Weſen ſehr verſtellte. Sein Betragen gegen Siegwart war hoͤflich, aber doch von einer Feyerlichkeit und Entfernung begleitet, die alles Zutrauen verbannte. Vor Tiſch wurden die Kinder ins Zimmer gebracht, zwey Maͤdchen von 6 und 7 Jahren, und ein Knabe von 9 Jahren, die wie junge Engel ausſahen. Sie muſten etwas franzoͤſiſch plappern, aber mit Siegwart ſprach der Knabe deutſch, fragte ihn alles, wo er herkomme? wie er heiſſe: Ob er auch einen Papa, und auch eine liebe Mama habe? u.ſ.w. Dann erzaͤhlte er allerley Ge- ſchichten von ſich und ſeinen Schweſtern, von ih- ren Puppen, von ſeinen zinnernen Soldaten, die er herholte und in Schlachtordnung ſtellte. Sieg-
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Kronhelm ſchickte ſeinen Bedienten dahin,
und ließ ihn zu ſeiner Schweſter zum Mittags-
eſſen bitten. Er ward von ihr guͤtig aufgenommen.
Sie war ein Frauenzimmer von 25 oder 26 Jah-
ren, das in den Geſichtszuͤgen, das feine weibliche
abgerechnet, ihrem Bruder ganz aͤhnlich ſah. Sie
hatte viel Anmuth in der Miene, etwas ſchwaͤrme-
riſches im Auge, und viele Lebhaftigkeit und Mun-
terkeit in ihrem Weſen. Jhr Mann war auch da;
er war ſchon in den dreyſſigen, hatte eine ziemlich
angenehme Bildung, die er aber durch ein ange-
nommnes, kaltes, ſteifes Weſen ſehr verſtellte. Sein
Betragen gegen Siegwart war hoͤflich, aber doch
von einer Feyerlichkeit und Entfernung begleitet,
die alles Zutrauen verbannte. Vor Tiſch wurden
die Kinder ins Zimmer gebracht, zwey Maͤdchen
von 6 und 7 Jahren, und ein Knabe von 9 Jahren,
die wie junge Engel ausſahen. Sie muſten etwas
franzoͤſiſch plappern, aber mit Siegwart ſprach der
Knabe deutſch, fragte ihn alles, wo er herkomme? wie
er heiſſe: Ob er auch einen Papa, und auch eine liebe
Mama habe? u.ſ.w. Dann erzaͤhlte er allerley Ge-
ſchichten von ſich und ſeinen Schweſtern, von ih-
ren Puppen, von ſeinen zinnernen Soldaten, die
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/304>, abgerufen am 25.11.2024.
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