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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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nuten kam sie, ohne daß ers merkte, zu ihm, legte
ihre Hand auf die seinige, sah ihn an, und sagte:
Sie sind traurig? -- Ja, vor Freuden, antwor-
tete er. Lieber, lieber Engel, sind Sie mein? --
Auf ewig! sagte sie, und sank ihm mit dem Ge-
sicht an die Brust. Er küßte sie feurig, und em-
pfieng von ihr den ersten heiligen Kuß der Liebe. --
Drauf folgte eine sprachlose Scene, die sich nicht
beschreiben läst. Erst nach einiger Zeit giengen sie,
mit nassen Augen, um eine Menuet zu tanzen.
Dann giengen sie wieder ans Fenster, sahn den Mond
an, sahn, wie er sich spiegelte in ihren Thränen,
küßten sie sich von den Wangen, und waren über-
schwenglich glücklich. Siegwart tanzte fast mit kei-
nem Mädchen, als mit ihr. Wenn sie mit einem
andern tanzte, so stellte er sich in eine Ecke, und
hatte fast immer Thränen in den Augen, denn das
Maaß der Freuden war für ihn zu groß. Sie kam
immer, wenn sie ausgetanzt hatte, wieder zu ihm
hin, nahm ihn bey der Hand, und sah ihn unaus-
sprechlich zärtlich an. -- Nun müssen Sie mich oft
besuchen, sagte sie. Meine Mutter liebt Sie, mein
Vater ist Jhnen gut, und mein Bruder denkt auch
wieder besser von Jhnen, seit Sie auf sein Spiel zu
achten scheinen. Etwas behutsam müssen Sie nur



nuten kam ſie, ohne daß ers merkte, zu ihm, legte
ihre Hand auf die ſeinige, ſah ihn an, und ſagte:
Sie ſind traurig? — Ja, vor Freuden, antwor-
tete er. Lieber, lieber Engel, ſind Sie mein? —
Auf ewig! ſagte ſie, und ſank ihm mit dem Ge-
ſicht an die Bruſt. Er kuͤßte ſie feurig, und em-
pfieng von ihr den erſten heiligen Kuß der Liebe. —
Drauf folgte eine ſprachloſe Scene, die ſich nicht
beſchreiben laͤſt. Erſt nach einiger Zeit giengen ſie,
mit naſſen Augen, um eine Menuet zu tanzen.
Dann giengen ſie wieder ans Fenſter, ſahn den Mond
an, ſahn, wie er ſich ſpiegelte in ihren Thraͤnen,
kuͤßten ſie ſich von den Wangen, und waren uͤber-
ſchwenglich gluͤcklich. Siegwart tanzte faſt mit kei-
nem Maͤdchen, als mit ihr. Wenn ſie mit einem
andern tanzte, ſo ſtellte er ſich in eine Ecke, und
hatte faſt immer Thraͤnen in den Augen, denn das
Maaß der Freuden war fuͤr ihn zu groß. Sie kam
immer, wenn ſie ausgetanzt hatte, wieder zu ihm
hin, nahm ihn bey der Hand, und ſah ihn unaus-
ſprechlich zaͤrtlich an. — Nun muͤſſen Sie mich oft
beſuchen, ſagte ſie. Meine Mutter liebt Sie, mein
Vater iſt Jhnen gut, und mein Bruder denkt auch
wieder beſſer von Jhnen, ſeit Sie auf ſein Spiel zu
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[696/0276] nuten kam ſie, ohne daß ers merkte, zu ihm, legte ihre Hand auf die ſeinige, ſah ihn an, und ſagte: Sie ſind traurig? — Ja, vor Freuden, antwor- tete er. Lieber, lieber Engel, ſind Sie mein? — Auf ewig! ſagte ſie, und ſank ihm mit dem Ge- ſicht an die Bruſt. Er kuͤßte ſie feurig, und em- pfieng von ihr den erſten heiligen Kuß der Liebe. — Drauf folgte eine ſprachloſe Scene, die ſich nicht beſchreiben laͤſt. Erſt nach einiger Zeit giengen ſie, mit naſſen Augen, um eine Menuet zu tanzen. Dann giengen ſie wieder ans Fenſter, ſahn den Mond an, ſahn, wie er ſich ſpiegelte in ihren Thraͤnen, kuͤßten ſie ſich von den Wangen, und waren uͤber- ſchwenglich gluͤcklich. Siegwart tanzte faſt mit kei- nem Maͤdchen, als mit ihr. Wenn ſie mit einem andern tanzte, ſo ſtellte er ſich in eine Ecke, und hatte faſt immer Thraͤnen in den Augen, denn das Maaß der Freuden war fuͤr ihn zu groß. Sie kam immer, wenn ſie ausgetanzt hatte, wieder zu ihm hin, nahm ihn bey der Hand, und ſah ihn unaus- ſprechlich zaͤrtlich an. — Nun muͤſſen Sie mich oft beſuchen, ſagte ſie. Meine Mutter liebt Sie, mein Vater iſt Jhnen gut, und mein Bruder denkt auch wieder beſſer von Jhnen, ſeit Sie auf ſein Spiel zu achten ſcheinen. Etwas behutſam muͤſſen Sie nur

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 696. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/276>, abgerufen am 22.11.2024.