Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.sagte sie, daß sie nun auf Gutfrieds Zimmer woh- nen, so kann ich sie doch oft Violine oder Flöte spie- len hören. -- Und ich Sie oft sehen und oft hö- ren, fiel ihr Siegwart ein. Diese Wohnung ist mir mehr werth, als wenn man mir das ganze Schloß schenkte. -- Sie sind gar zu gütig! sagte sie. -- Gar zu eigennützig, sollten Sie sagen, ver- setzte Siegwart. -- Sie sprachen auf dem ganzen Weg hin nach dem Dorfe, und zwar so, als ob sie mit einander völlig ausgemacht hätten, daß sie sich liebten; sie nahmen es stillschweigend für be- kannt an, und sprachen vertrauter, als sie selbst zu wissen schienen. Auf dem Dorfe ließ er ihre Hand fast niemals los, schenkte ihr Chokolade ein, und trank, weil Mangel dran war, mit ihr aus einer Schaale. Kron- helm selbst muste sich über die Herzhaftigkeit seines Freundes, und über ihre Offenherzigkeit wundern, da sie sonst etwas zurückhaltend, und dem Scheine nach stolz war. So eine mächtige Veränderung in ihrem beyderseitigen Karakter hatte die Liebe, die stumme Augensprache, und der Zwang, sich einander nicht ent- decken zu dürfen, hervorgebracht. Auf dem Rück- wege sagte Siegwart: dieser Abend ist noch schöner, als der letztere; Sie sind noch gütiger und freundli- cher. -- Sie sind auch noch ungezwungener und ſagte ſie, daß ſie nun auf Gutfrieds Zimmer woh- nen, ſo kann ich ſie doch oft Violine oder Floͤte ſpie- len hoͤren. — Und ich Sie oft ſehen und oft hoͤ- ren, fiel ihr Siegwart ein. Dieſe Wohnung iſt mir mehr werth, als wenn man mir das ganze Schloß ſchenkte. — Sie ſind gar zu guͤtig! ſagte ſie. — Gar zu eigennuͤtzig, ſollten Sie ſagen, ver- ſetzte Siegwart. — Sie ſprachen auf dem ganzen Weg hin nach dem Dorfe, und zwar ſo, als ob ſie mit einander voͤllig ausgemacht haͤtten, daß ſie ſich liebten; ſie nahmen es ſtillſchweigend fuͤr be- kannt an, und ſprachen vertrauter, als ſie ſelbſt zu wiſſen ſchienen. Auf dem Dorfe ließ er ihre Hand faſt niemals los, ſchenkte ihr Chokolade ein, und trank, weil Mangel dran war, mit ihr aus einer Schaale. Kron- helm ſelbſt muſte ſich uͤber die Herzhaftigkeit ſeines Freundes, und uͤber ihre Offenherzigkeit wundern, da ſie ſonſt etwas zuruͤckhaltend, und dem Scheine nach ſtolz war. So eine maͤchtige Veraͤnderung in ihrem beyderſeitigen Karakter hatte die Liebe, die ſtumme Augenſprache, und der Zwang, ſich einander nicht ent- decken zu duͤrfen, hervorgebracht. Auf dem Ruͤck- wege ſagte Siegwart: dieſer Abend iſt noch ſchoͤner, als der letztere; Sie ſind noch guͤtiger und freundli- cher. — Sie ſind auch noch ungezwungener und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0271" n="691"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> ſagte ſie, daß ſie nun auf Gutfrieds Zimmer woh-<lb/> nen, ſo kann ich ſie doch oft Violine oder Floͤte ſpie-<lb/> len hoͤren. — Und ich Sie oft ſehen und oft hoͤ-<lb/> ren, fiel ihr Siegwart ein. Dieſe Wohnung iſt<lb/> mir mehr werth, als wenn man mir das ganze<lb/> Schloß ſchenkte. — Sie ſind gar zu guͤtig! ſagte<lb/> ſie. — Gar zu eigennuͤtzig, ſollten Sie ſagen, ver-<lb/> ſetzte Siegwart. — Sie ſprachen auf dem ganzen<lb/> Weg hin nach dem Dorfe, und zwar ſo, als ob<lb/> ſie mit einander voͤllig ausgemacht haͤtten, daß ſie<lb/> ſich liebten; ſie nahmen es ſtillſchweigend fuͤr be-<lb/> kannt an, und ſprachen vertrauter, als ſie ſelbſt zu<lb/> wiſſen ſchienen. Auf dem Dorfe ließ er ihre Hand faſt<lb/> niemals los, ſchenkte ihr Chokolade ein, und trank, weil<lb/> Mangel dran war, mit ihr aus einer Schaale. Kron-<lb/> helm ſelbſt muſte ſich uͤber die Herzhaftigkeit ſeines<lb/> Freundes, und uͤber ihre Offenherzigkeit wundern, da<lb/> ſie ſonſt etwas zuruͤckhaltend, und dem Scheine nach<lb/> ſtolz war. So eine maͤchtige Veraͤnderung in ihrem<lb/> beyderſeitigen Karakter hatte die Liebe, die ſtumme<lb/> Augenſprache, und der Zwang, ſich einander nicht ent-<lb/> decken zu duͤrfen, hervorgebracht. Auf dem Ruͤck-<lb/> wege ſagte Siegwart: dieſer Abend iſt noch ſchoͤner,<lb/> als der letztere; Sie ſind noch guͤtiger und freundli-<lb/> cher. — Sie ſind auch noch ungezwungener und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [691/0271]
ſagte ſie, daß ſie nun auf Gutfrieds Zimmer woh-
nen, ſo kann ich ſie doch oft Violine oder Floͤte ſpie-
len hoͤren. — Und ich Sie oft ſehen und oft hoͤ-
ren, fiel ihr Siegwart ein. Dieſe Wohnung iſt
mir mehr werth, als wenn man mir das ganze
Schloß ſchenkte. — Sie ſind gar zu guͤtig! ſagte
ſie. — Gar zu eigennuͤtzig, ſollten Sie ſagen, ver-
ſetzte Siegwart. — Sie ſprachen auf dem ganzen
Weg hin nach dem Dorfe, und zwar ſo, als ob
ſie mit einander voͤllig ausgemacht haͤtten, daß ſie
ſich liebten; ſie nahmen es ſtillſchweigend fuͤr be-
kannt an, und ſprachen vertrauter, als ſie ſelbſt zu
wiſſen ſchienen. Auf dem Dorfe ließ er ihre Hand faſt
niemals los, ſchenkte ihr Chokolade ein, und trank, weil
Mangel dran war, mit ihr aus einer Schaale. Kron-
helm ſelbſt muſte ſich uͤber die Herzhaftigkeit ſeines
Freundes, und uͤber ihre Offenherzigkeit wundern, da
ſie ſonſt etwas zuruͤckhaltend, und dem Scheine nach
ſtolz war. So eine maͤchtige Veraͤnderung in ihrem
beyderſeitigen Karakter hatte die Liebe, die ſtumme
Augenſprache, und der Zwang, ſich einander nicht ent-
decken zu duͤrfen, hervorgebracht. Auf dem Ruͤck-
wege ſagte Siegwart: dieſer Abend iſt noch ſchoͤner,
als der letztere; Sie ſind noch guͤtiger und freundli-
cher. — Sie ſind auch noch ungezwungener und
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