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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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nen, wenn ich mich Stunden lang besonnen hätte.
Sie wird mich wol für einen dummen Einfaltspin-
sel halten. -- Das gewiß nicht, Bruder! sagte Kron-
helm. Die Liebe hat ihre eigne Sprache; das
Auge hat da mehr zu thun, als die Zunge. Und
Mariane hat dich ganz gewiß verstanden. Man
hält alles, was man spricht, für dummes Zeug,
weil man fühlt, daß man das noch lang nicht aus-
drückt, was das Herz fühlt. Man will lauter
Empfindungen und Göttersprüche sprechen, und
da ist unsre Sprache viel zu arm dazu. Jedes
Wort soll so voll und warm seyn, wie das Herz
ist, und das ist unmöglich. Weil man nun doch
sprechen will, da kommt man auf allerley entfernte
und gleichgültige Dinge, die nichts sagen. Die
Empfindung ist einsylbig, oder stumm. Jch habe
das bey Theresen oft gefühlt. Waren wir allein,
so schwieg ich ganz; und wenn andre da waren,
so macht' ich Spaß; das ist noch das Beste. --
Mariane hat dich gewiß gefühlt. Wärst du wort-
reich gewesen, so wärs mit deiner Liebe nichts.
Redseligkeit ist Larve der Liebe, nicht die Liebe selbst. --
Bruder, sieh! wie die Sonne so hell aufgeht!
Jch denke, wir gehen spatzieren. Mit deinen theo-
logischen Kollegien hats nun doch wohl in En-



nen, wenn ich mich Stunden lang beſonnen haͤtte.
Sie wird mich wol fuͤr einen dummen Einfaltspin-
ſel halten. — Das gewiß nicht, Bruder! ſagte Kron-
helm. Die Liebe hat ihre eigne Sprache; das
Auge hat da mehr zu thun, als die Zunge. Und
Mariane hat dich ganz gewiß verſtanden. Man
haͤlt alles, was man ſpricht, fuͤr dummes Zeug,
weil man fuͤhlt, daß man das noch lang nicht aus-
druͤckt, was das Herz fuͤhlt. Man will lauter
Empfindungen und Goͤtterſpruͤche ſprechen, und
da iſt unſre Sprache viel zu arm dazu. Jedes
Wort ſoll ſo voll und warm ſeyn, wie das Herz
iſt, und das iſt unmoͤglich. Weil man nun doch
ſprechen will, da kommt man auf allerley entfernte
und gleichguͤltige Dinge, die nichts ſagen. Die
Empfindung iſt einſylbig, oder ſtumm. Jch habe
das bey Thereſen oft gefuͤhlt. Waren wir allein,
ſo ſchwieg ich ganz; und wenn andre da waren,
ſo macht’ ich Spaß; das iſt noch das Beſte. —
Mariane hat dich gewiß gefuͤhlt. Waͤrſt du wort-
reich geweſen, ſo waͤrs mit deiner Liebe nichts.
Redſeligkeit iſt Larve der Liebe, nicht die Liebe ſelbſt. —
Bruder, ſieh! wie die Sonne ſo hell aufgeht!
Jch denke, wir gehen ſpatzieren. Mit deinen theo-
logiſchen Kollegien hats nun doch wohl in En-

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[678/0258] nen, wenn ich mich Stunden lang beſonnen haͤtte. Sie wird mich wol fuͤr einen dummen Einfaltspin- ſel halten. — Das gewiß nicht, Bruder! ſagte Kron- helm. Die Liebe hat ihre eigne Sprache; das Auge hat da mehr zu thun, als die Zunge. Und Mariane hat dich ganz gewiß verſtanden. Man haͤlt alles, was man ſpricht, fuͤr dummes Zeug, weil man fuͤhlt, daß man das noch lang nicht aus- druͤckt, was das Herz fuͤhlt. Man will lauter Empfindungen und Goͤtterſpruͤche ſprechen, und da iſt unſre Sprache viel zu arm dazu. Jedes Wort ſoll ſo voll und warm ſeyn, wie das Herz iſt, und das iſt unmoͤglich. Weil man nun doch ſprechen will, da kommt man auf allerley entfernte und gleichguͤltige Dinge, die nichts ſagen. Die Empfindung iſt einſylbig, oder ſtumm. Jch habe das bey Thereſen oft gefuͤhlt. Waren wir allein, ſo ſchwieg ich ganz; und wenn andre da waren, ſo macht’ ich Spaß; das iſt noch das Beſte. — Mariane hat dich gewiß gefuͤhlt. Waͤrſt du wort- reich geweſen, ſo waͤrs mit deiner Liebe nichts. Redſeligkeit iſt Larve der Liebe, nicht die Liebe ſelbſt. — Bruder, ſieh! wie die Sonne ſo hell aufgeht! Jch denke, wir gehen ſpatzieren. Mit deinen theo- logiſchen Kollegien hats nun doch wohl in En-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/258>, abgerufen am 22.11.2024.