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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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neigte sich gegen sie, und nahm zitternd seine Vio-
line. Seine Töne rangen mit den ihrigen um den
Vorrang des Ausdrucks; endlich strömten sie in
einander, wie die Empfindung zwoer Seelen, die
sich nun zum erstenmal ihr Gefühl entdecken, und es
ganz in Seufzer und in Worte ausfliessen lassen.
Als er ausgespielt hatte, verneigte sie sich tief vor
ihm, mit einem Lächeln und einem Ausdruck ihres
Auges, der durch sein ganzes Wesen eine, nie ge-
fühlte Wärme ausgoß. Jn dem Augenblick ver-
gaß er aller Zweifel, aller Schwierigkeiten; sie
war ganz sein. Es fühlt' er wohl, und wust' es
nicht, wie Klopstock sagt.

Sie bat ihn nun im nächsten Konzert ein Duett
mit ihr zu singen. Er stotterte was her: Er sey im
Singen so geübt nicht, um mit ihr zu singen
u. s. w. Sie sagte aber: Sie wisse, durch Herrn
von Kronhelm, schon das Gegentheil, und rief
Kronhelm selbst zum Zeugen auf. Dieser versicher-
te, daß sein Freund nur aus übergrosser Beschei-
denheit so rede. Drauf sprachen sie von Gutfried.
Mariane bedaurte seinen Tod mit dem herzlichsten
Antheil, so daß unserm Siegwart die Thränen in
die Augen schossen. Tausend Empfindungen drängten
sich in seiner Seele. Gutfried, sagte sie, hatte



neigte ſich gegen ſie, und nahm zitternd ſeine Vio-
line. Seine Toͤne rangen mit den ihrigen um den
Vorrang des Ausdrucks; endlich ſtroͤmten ſie in
einander, wie die Empfindung zwoer Seelen, die
ſich nun zum erſtenmal ihr Gefuͤhl entdecken, und es
ganz in Seufzer und in Worte ausflieſſen laſſen.
Als er ausgeſpielt hatte, verneigte ſie ſich tief vor
ihm, mit einem Laͤcheln und einem Ausdruck ihres
Auges, der durch ſein ganzes Weſen eine, nie ge-
fuͤhlte Waͤrme ausgoß. Jn dem Augenblick ver-
gaß er aller Zweifel, aller Schwierigkeiten; ſie
war ganz ſein. Es fuͤhlt’ er wohl, und wuſt’ es
nicht, wie Klopſtock ſagt.

Sie bat ihn nun im naͤchſten Konzert ein Duett
mit ihr zu ſingen. Er ſtotterte was her: Er ſey im
Singen ſo geuͤbt nicht, um mit ihr zu ſingen
u. ſ. w. Sie ſagte aber: Sie wiſſe, durch Herrn
von Kronhelm, ſchon das Gegentheil, und rief
Kronhelm ſelbſt zum Zeugen auf. Dieſer verſicher-
te, daß ſein Freund nur aus uͤbergroſſer Beſchei-
denheit ſo rede. Drauf ſprachen ſie von Gutfried.
Mariane bedaurte ſeinen Tod mit dem herzlichſten
Antheil, ſo daß unſerm Siegwart die Thraͤnen in
die Augen ſchoſſen. Tauſend Empfindungen draͤngten
ſich in ſeiner Seele. Gutfried, ſagte ſie, hatte

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[651/0231] neigte ſich gegen ſie, und nahm zitternd ſeine Vio- line. Seine Toͤne rangen mit den ihrigen um den Vorrang des Ausdrucks; endlich ſtroͤmten ſie in einander, wie die Empfindung zwoer Seelen, die ſich nun zum erſtenmal ihr Gefuͤhl entdecken, und es ganz in Seufzer und in Worte ausflieſſen laſſen. Als er ausgeſpielt hatte, verneigte ſie ſich tief vor ihm, mit einem Laͤcheln und einem Ausdruck ihres Auges, der durch ſein ganzes Weſen eine, nie ge- fuͤhlte Waͤrme ausgoß. Jn dem Augenblick ver- gaß er aller Zweifel, aller Schwierigkeiten; ſie war ganz ſein. Es fuͤhlt’ er wohl, und wuſt’ es nicht, wie Klopſtock ſagt. Sie bat ihn nun im naͤchſten Konzert ein Duett mit ihr zu ſingen. Er ſtotterte was her: Er ſey im Singen ſo geuͤbt nicht, um mit ihr zu ſingen u. ſ. w. Sie ſagte aber: Sie wiſſe, durch Herrn von Kronhelm, ſchon das Gegentheil, und rief Kronhelm ſelbſt zum Zeugen auf. Dieſer verſicher- te, daß ſein Freund nur aus uͤbergroſſer Beſchei- denheit ſo rede. Drauf ſprachen ſie von Gutfried. Mariane bedaurte ſeinen Tod mit dem herzlichſten Antheil, ſo daß unſerm Siegwart die Thraͤnen in die Augen ſchoſſen. Tauſend Empfindungen draͤngten ſich in ſeiner Seele. Gutfried, ſagte ſie, hatte

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/231>, abgerufen am 24.11.2024.