Wunder sehen! O, sie hat ein himmlisches Ge- müth! Nach deiner Schwester kenn ich gar kein beßres Mädchen. So viel Verstand, so viel Em- pfindung und Gutherzigkeit, so viel Festigkeit der Seele, und edeln Stolz und Unschuld trift man selten beysammen an. Ueberhaupt hat sie mit The- resen sehr viel Aehnlichkeit, nur daß sie kälter scheint, und, wie mir deucht, etwas eigensinnig ist, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will. Jhre Mutter haft du auch gesehen; das ist eine trefliche Frau, die es selbst nicht weis, wie gut sie ist. Sie ist die Bescheidenheit und Frömmigkeit selbst, und liebt ihre Tochter über alles. Man könnte sie für übertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt alles aus gutem Herzen.
Siegwart legte sich voll froher Vorstellungen schlafen. Das Versprechen Kronhelms, ihn mit Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm tausend glänzende Aussichten. Er sah eine wonne- volle Zukunft vor sich, und machte tausend Plane von Glückseligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er unter allerley Vorwand zu Gutfried, um sie oft zu sehen, und sie stand oft eine Viertelstunde lang am Fenster, und blickte oft herüber. Jn der Kir-
Wunder ſehen! O, ſie hat ein himmliſches Ge- muͤth! Nach deiner Schweſter kenn ich gar kein beßres Maͤdchen. So viel Verſtand, ſo viel Em- pfindung und Gutherzigkeit, ſo viel Feſtigkeit der Seele, und edeln Stolz und Unſchuld trift man ſelten beyſammen an. Ueberhaupt hat ſie mit The- reſen ſehr viel Aehnlichkeit, nur daß ſie kaͤlter ſcheint, und, wie mir deucht, etwas eigenſinnig iſt, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will. Jhre Mutter haft du auch geſehen; das iſt eine trefliche Frau, die es ſelbſt nicht weis, wie gut ſie iſt. Sie iſt die Beſcheidenheit und Froͤmmigkeit ſelbſt, und liebt ihre Tochter uͤber alles. Man koͤnnte ſie fuͤr uͤbertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt alles aus gutem Herzen.
Siegwart legte ſich voll froher Vorſtellungen ſchlafen. Das Verſprechen Kronhelms, ihn mit Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm tauſend glaͤnzende Ausſichten. Er ſah eine wonne- volle Zukunft vor ſich, und machte tauſend Plane von Gluͤckſeligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er unter allerley Vorwand zu Gutfried, um ſie oft zu ſehen, und ſie ſtand oft eine Viertelſtunde lang am Fenſter, und blickte oft heruͤber. Jn der Kir-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0192"n="612"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
Wunder ſehen! O, ſie hat ein himmliſches Ge-<lb/>
muͤth! Nach deiner Schweſter kenn ich gar kein<lb/>
beßres Maͤdchen. So viel Verſtand, ſo viel Em-<lb/>
pfindung und Gutherzigkeit, ſo viel Feſtigkeit der<lb/>
Seele, und edeln Stolz und Unſchuld trift man<lb/>ſelten beyſammen an. Ueberhaupt hat ſie mit The-<lb/>
reſen ſehr viel Aehnlichkeit, nur daß ſie kaͤlter<lb/>ſcheint, und, wie mir deucht, etwas eigenſinnig<lb/>
iſt, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will.<lb/>
Jhre Mutter haft du auch geſehen; das iſt eine trefliche<lb/>
Frau, die es ſelbſt nicht weis, wie gut ſie iſt. Sie<lb/>
iſt die Beſcheidenheit und Froͤmmigkeit ſelbſt, und<lb/>
liebt ihre Tochter uͤber alles. Man koͤnnte ſie fuͤr<lb/>
uͤbertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt<lb/>
alles aus gutem Herzen.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Siegwart</hi> legte ſich voll froher Vorſtellungen<lb/>ſchlafen. Das Verſprechen Kronhelms, ihn mit<lb/>
Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm<lb/>
tauſend glaͤnzende Ausſichten. Er ſah eine wonne-<lb/>
volle Zukunft vor ſich, und machte tauſend Plane<lb/>
von Gluͤckſeligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er<lb/>
unter allerley Vorwand zu Gutfried, um ſie oft<lb/>
zu ſehen, und ſie ſtand oft eine Viertelſtunde lang<lb/>
am Fenſter, und blickte oft heruͤber. Jn der Kir-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[612/0192]
Wunder ſehen! O, ſie hat ein himmliſches Ge-
muͤth! Nach deiner Schweſter kenn ich gar kein
beßres Maͤdchen. So viel Verſtand, ſo viel Em-
pfindung und Gutherzigkeit, ſo viel Feſtigkeit der
Seele, und edeln Stolz und Unſchuld trift man
ſelten beyſammen an. Ueberhaupt hat ſie mit The-
reſen ſehr viel Aehnlichkeit, nur daß ſie kaͤlter
ſcheint, und, wie mir deucht, etwas eigenſinnig
iſt, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will.
Jhre Mutter haft du auch geſehen; das iſt eine trefliche
Frau, die es ſelbſt nicht weis, wie gut ſie iſt. Sie
iſt die Beſcheidenheit und Froͤmmigkeit ſelbſt, und
liebt ihre Tochter uͤber alles. Man koͤnnte ſie fuͤr
uͤbertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt
alles aus gutem Herzen.
Siegwart legte ſich voll froher Vorſtellungen
ſchlafen. Das Verſprechen Kronhelms, ihn mit
Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm
tauſend glaͤnzende Ausſichten. Er ſah eine wonne-
volle Zukunft vor ſich, und machte tauſend Plane
von Gluͤckſeligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er
unter allerley Vorwand zu Gutfried, um ſie oft
zu ſehen, und ſie ſtand oft eine Viertelſtunde lang
am Fenſter, und blickte oft heruͤber. Jn der Kir-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/192>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.