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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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weil er fürchtete, jeder werde sogleich die Absicht
seiner Frage muthmassen. Er gieng alle Tage
zwey- oder dreymal bey dem Hause vorbey; sah
aber seine Holde nie am Fenster. Die ganze Wo-
che verfloß ihm unter Seufzern nach dem Sonn-
tag, weil er da gewiß wieder sein liebes Mädchen
in der Kirche zu sehen hoffte. Viele Stunden, ja
halbe Tage lang besprach er sich in Gedanken mit
ihr, klagte ihr seine Leiden vor, und ließ sie zärtlich
wieder antworten. Er sann ganze Romanen aus,
und dachte sich in Lagen hinein, in denen sie noth-
wendig sein werden muste. Oft wünschte er sie in
Lebensgefahr; daß Feuer in ihrem Hause auskom-
men möchte, und er sie befreyen könnte. Er dach-
te sie in Wassergefahr, rettete sie, und nun gab sie
ihm zur Dankbarkeit ihre Hand. Aufs lebhafteste
fühlte er die Wonne, mit der er sie an sein Herz
drückte; den Blick der Dankbarkeit und Liebe, den
sie auf ihn warf; dann eilte er zu ihrem Vater,
zeigte ihm die befreyte Tochter, und ward ihr
Bräutigam. Nur ein Liebender, wie unser Sieg-
wart, kann sich die schwärmerischen und zärtlichen
Gespräche denken, die dann seine Seele mit ihr
führte. -- Aber Seufzer, und Bangigkeit, und



weil er fuͤrchtete, jeder werde ſogleich die Abſicht
ſeiner Frage muthmaſſen. Er gieng alle Tage
zwey- oder dreymal bey dem Hauſe vorbey; ſah
aber ſeine Holde nie am Fenſter. Die ganze Wo-
che verfloß ihm unter Seufzern nach dem Sonn-
tag, weil er da gewiß wieder ſein liebes Maͤdchen
in der Kirche zu ſehen hoffte. Viele Stunden, ja
halbe Tage lang beſprach er ſich in Gedanken mit
ihr, klagte ihr ſeine Leiden vor, und ließ ſie zaͤrtlich
wieder antworten. Er ſann ganze Romanen aus,
und dachte ſich in Lagen hinein, in denen ſie noth-
wendig ſein werden muſte. Oft wuͤnſchte er ſie in
Lebensgefahr; daß Feuer in ihrem Hauſe auskom-
men moͤchte, und er ſie befreyen koͤnnte. Er dach-
te ſie in Waſſergefahr, rettete ſie, und nun gab ſie
ihm zur Dankbarkeit ihre Hand. Aufs lebhafteſte
fuͤhlte er die Wonne, mit der er ſie an ſein Herz
druͤckte; den Blick der Dankbarkeit und Liebe, den
ſie auf ihn warf; dann eilte er zu ihrem Vater,
zeigte ihm die befreyte Tochter, und ward ihr
Braͤutigam. Nur ein Liebender, wie unſer Sieg-
wart, kann ſich die ſchwaͤrmeriſchen und zaͤrtlichen
Geſpraͤche denken, die dann ſeine Seele mit ihr
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[589/0169] weil er fuͤrchtete, jeder werde ſogleich die Abſicht ſeiner Frage muthmaſſen. Er gieng alle Tage zwey- oder dreymal bey dem Hauſe vorbey; ſah aber ſeine Holde nie am Fenſter. Die ganze Wo- che verfloß ihm unter Seufzern nach dem Sonn- tag, weil er da gewiß wieder ſein liebes Maͤdchen in der Kirche zu ſehen hoffte. Viele Stunden, ja halbe Tage lang beſprach er ſich in Gedanken mit ihr, klagte ihr ſeine Leiden vor, und ließ ſie zaͤrtlich wieder antworten. Er ſann ganze Romanen aus, und dachte ſich in Lagen hinein, in denen ſie noth- wendig ſein werden muſte. Oft wuͤnſchte er ſie in Lebensgefahr; daß Feuer in ihrem Hauſe auskom- men moͤchte, und er ſie befreyen koͤnnte. Er dach- te ſie in Waſſergefahr, rettete ſie, und nun gab ſie ihm zur Dankbarkeit ihre Hand. Aufs lebhafteſte fuͤhlte er die Wonne, mit der er ſie an ſein Herz druͤckte; den Blick der Dankbarkeit und Liebe, den ſie auf ihn warf; dann eilte er zu ihrem Vater, zeigte ihm die befreyte Tochter, und ward ihr Braͤutigam. Nur ein Liebender, wie unſer Sieg- wart, kann ſich die ſchwaͤrmeriſchen und zaͤrtlichen Geſpraͤche denken, die dann ſeine Seele mit ihr fuͤhrte. — Aber Seufzer, und Bangigkeit, und

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/169>, abgerufen am 24.11.2024.