ausreissen konnte. Auf dem Dorfe hatten sie we- nig Vergnügen, und konnten nicht einmal zusam- men sprechen, denn die vielen andern Studenten, die da waren, machten mit Gesang und Zank beym Spiel einen solchen Lerm, daß man kaum sein eig- nes Wort verstand. Gegen Abend ritten sie in der Dämmerung wieder zurück. Alle drey Lieben- de waren jetzt noch wehmüthiger; jeder dachte sich zu seinem Mädchen hin. Als sie gegen die Stadt hin ritten, begegnete ihnen ein Scharfrich- ter, der auf seinem Karren das ertrunkne Mädchen fuhr. Der Unglücklichliebende, sagte Kronhelm, der sich mit der ganzen Schwere seines Jammers bela- den, selber in die Grube stürzt, hat also einerley Schicksal mit dem Bösewicht, der sich im Kerker umbringt, um dem Galgen zu entgehen; oder mit dem Betrüger, der, weil er seinen Gläubigern nicht mehr entgehen kann, sich dem Tod in den Rachen wirft? Wie wenig sehn doch die meisten bürgerli- chen Gesetze auf das Moralische an einer Handlung! Laß sie ruhen! sagte Siegwart; ihr ists einerley, wo ihr Körper liegt. -- Das wohl! antwortete Kronhelm; aber das Unglück verdiente doch eine bessere Behandlung, als die Bosheit!
ausreiſſen konnte. Auf dem Dorfe hatten ſie we- nig Vergnuͤgen, und konnten nicht einmal zuſam- men ſprechen, denn die vielen andern Studenten, die da waren, machten mit Geſang und Zank beym Spiel einen ſolchen Lerm, daß man kaum ſein eig- nes Wort verſtand. Gegen Abend ritten ſie in der Daͤmmerung wieder zuruͤck. Alle drey Lieben- de waren jetzt noch wehmuͤthiger; jeder dachte ſich zu ſeinem Maͤdchen hin. Als ſie gegen die Stadt hin ritten, begegnete ihnen ein Scharfrich- ter, der auf ſeinem Karren das ertrunkne Maͤdchen fuhr. Der Ungluͤcklichliebende, ſagte Kronhelm, der ſich mit der ganzen Schwere ſeines Jammers bela- den, ſelber in die Grube ſtuͤrzt, hat alſo einerley Schickſal mit dem Boͤſewicht, der ſich im Kerker umbringt, um dem Galgen zu entgehen; oder mit dem Betruͤger, der, weil er ſeinen Glaͤubigern nicht mehr entgehen kann, ſich dem Tod in den Rachen wirft? Wie wenig ſehn doch die meiſten buͤrgerli- chen Geſetze auf das Moraliſche an einer Handlung! Laß ſie ruhen! ſagte Siegwart; ihr iſts einerley, wo ihr Koͤrper liegt. — Das wohl! antwortete Kronhelm; aber das Ungluͤck verdiente doch eine beſſere Behandlung, als die Bosheit!
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0167"n="587"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
ausreiſſen konnte. Auf dem Dorfe hatten ſie we-<lb/>
nig Vergnuͤgen, und konnten nicht einmal zuſam-<lb/>
men ſprechen, denn die vielen andern Studenten,<lb/>
die da waren, machten mit Geſang und Zank beym<lb/>
Spiel einen ſolchen Lerm, daß man kaum ſein eig-<lb/>
nes Wort verſtand. Gegen Abend ritten ſie in der<lb/>
Daͤmmerung wieder zuruͤck. Alle drey Lieben-<lb/>
de waren jetzt noch wehmuͤthiger; jeder dachte<lb/>ſich zu ſeinem Maͤdchen hin. Als ſie gegen die<lb/>
Stadt hin ritten, begegnete ihnen ein Scharfrich-<lb/>
ter, der auf ſeinem Karren das ertrunkne Maͤdchen<lb/>
fuhr. Der Ungluͤcklichliebende, ſagte Kronhelm, der<lb/>ſich mit der ganzen Schwere ſeines Jammers bela-<lb/>
den, ſelber in die Grube ſtuͤrzt, hat alſo einerley<lb/>
Schickſal mit dem Boͤſewicht, der ſich im Kerker<lb/>
umbringt, um dem Galgen zu entgehen; oder mit<lb/>
dem Betruͤger, der, weil er ſeinen Glaͤubigern nicht<lb/>
mehr entgehen kann, ſich dem Tod in den Rachen<lb/>
wirft? Wie wenig ſehn doch die meiſten buͤrgerli-<lb/>
chen Geſetze auf das Moraliſche an einer Handlung!<lb/>
Laß ſie ruhen! ſagte Siegwart; ihr iſts einerley,<lb/>
wo ihr Koͤrper liegt. — Das wohl! antwortete<lb/>
Kronhelm; aber das Ungluͤck verdiente doch eine<lb/>
beſſere Behandlung, als die Bosheit!</p><lb/></div></body></text></TEI>
[587/0167]
ausreiſſen konnte. Auf dem Dorfe hatten ſie we-
nig Vergnuͤgen, und konnten nicht einmal zuſam-
men ſprechen, denn die vielen andern Studenten,
die da waren, machten mit Geſang und Zank beym
Spiel einen ſolchen Lerm, daß man kaum ſein eig-
nes Wort verſtand. Gegen Abend ritten ſie in der
Daͤmmerung wieder zuruͤck. Alle drey Lieben-
de waren jetzt noch wehmuͤthiger; jeder dachte
ſich zu ſeinem Maͤdchen hin. Als ſie gegen die
Stadt hin ritten, begegnete ihnen ein Scharfrich-
ter, der auf ſeinem Karren das ertrunkne Maͤdchen
fuhr. Der Ungluͤcklichliebende, ſagte Kronhelm, der
ſich mit der ganzen Schwere ſeines Jammers bela-
den, ſelber in die Grube ſtuͤrzt, hat alſo einerley
Schickſal mit dem Boͤſewicht, der ſich im Kerker
umbringt, um dem Galgen zu entgehen; oder mit
dem Betruͤger, der, weil er ſeinen Glaͤubigern nicht
mehr entgehen kann, ſich dem Tod in den Rachen
wirft? Wie wenig ſehn doch die meiſten buͤrgerli-
chen Geſetze auf das Moraliſche an einer Handlung!
Laß ſie ruhen! ſagte Siegwart; ihr iſts einerley,
wo ihr Koͤrper liegt. — Das wohl! antwortete
Kronhelm; aber das Ungluͤck verdiente doch eine
beſſere Behandlung, als die Bosheit!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/167>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.