Hierauf steckte er dem Mädchen den Ring wieder an den Finger.
Kronhelm und Siegwart giengen schweigend und traurig weg. -- So ein Tod ist doch der schreck- lichste, sagte Siegwart; Gott sey dem armen Mäd- chen gnädig! -- Sie giengen nun wieder der Stadt und ihrem Hause zu. Siegwart konnte lang das Bild des Mädchens nicht aus seinem Herzen brin- gen, uud dafür das Bild seines Mädchens drein zurückrufen. Endlich war er wieder ganz bey ihr, und versetzte sich ganz in die Kirche. Als er zu Hause angekommen war, gieng er auf sein Zimmer, übersah die ganze Scene in der Kirche wieder, be- tete zu Gott um sein Mädchen, sprach oft laut, und warf endlich diese Verse, die mehr Gebet sind, als Gedicht, aufs Papier hin.
Sieh, o Gott der Liebe! Wie ein armes Herz, das du erschufest, Aus der Tiefe seiner Leiden Sich zu dir hinaufschwingt!
Heut, an deinem Altar Sah ich sie, in Andacht hingegossen, Die du auch, wie mich, erschufest; Ach, um die mein Herz bebt!
Hierauf ſteckte er dem Maͤdchen den Ring wieder an den Finger.
Kronhelm und Siegwart giengen ſchweigend und traurig weg. — So ein Tod iſt doch der ſchreck- lichſte, ſagte Siegwart; Gott ſey dem armen Maͤd- chen gnaͤdig! — Sie giengen nun wieder der Stadt und ihrem Hauſe zu. Siegwart konnte lang das Bild des Maͤdchens nicht aus ſeinem Herzen brin- gen, uud dafuͤr das Bild ſeines Maͤdchens drein zuruͤckrufen. Endlich war er wieder ganz bey ihr, und verſetzte ſich ganz in die Kirche. Als er zu Hauſe angekommen war, gieng er auf ſein Zimmer, uͤberſah die ganze Scene in der Kirche wieder, be- tete zu Gott um ſein Maͤdchen, ſprach oft laut, und warf endlich dieſe Verſe, die mehr Gebet ſind, als Gedicht, aufs Papier hin.
Sieh, o Gott der Liebe! Wie ein armes Herz, das du erſchufeſt, Aus der Tiefe ſeiner Leiden Sich zu dir hinaufſchwingt!
Heut, an deinem Altar Sah ich ſie, in Andacht hingegoſſen, Die du auch, wie mich, erſchufeſt; Ach, um die mein Herz bebt!
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Hierauf ſteckte er dem Maͤdchen den Ring wieder
an den Finger.
Kronhelm und Siegwart giengen ſchweigend und
traurig weg. — So ein Tod iſt doch der ſchreck-
lichſte, ſagte Siegwart; Gott ſey dem armen Maͤd-
chen gnaͤdig! — Sie giengen nun wieder der Stadt
und ihrem Hauſe zu. Siegwart konnte lang das
Bild des Maͤdchens nicht aus ſeinem Herzen brin-
gen, uud dafuͤr das Bild ſeines Maͤdchens drein
zuruͤckrufen. Endlich war er wieder ganz bey ihr,
und verſetzte ſich ganz in die Kirche. Als er zu
Hauſe angekommen war, gieng er auf ſein Zimmer,
uͤberſah die ganze Scene in der Kirche wieder, be-
tete zu Gott um ſein Maͤdchen, ſprach oft laut, und
warf endlich dieſe Verſe, die mehr Gebet ſind, als
Gedicht, aufs Papier hin.
Sieh, o Gott der Liebe!
Wie ein armes Herz, das du erſchufeſt,
Aus der Tiefe ſeiner Leiden
Sich zu dir hinaufſchwingt!
Heut, an deinem Altar
Sah ich ſie, in Andacht hingegoſſen,
Die du auch, wie mich, erſchufeſt;
Ach, um die mein Herz bebt!
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/164>, abgerufen am 24.11.2024.
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