tagshimmel; mild dein Lächeln, wie die Abendson- ne; golden sind deine Locken, wie die goldbesäum- ten Wolken, wenn die Sonne sinkt. Der du jezt schon so lieblich bist, wie wirst du einst geschmückt seyn in den Tagen der Belohnung! Wie einher- gehn unter Engeln und Gerechten!
Jch bin blaß geworden wie die Lilie des Gar- tens, und mein Haupt senkt sich zur Erde. Meine Mutter weint und traurt: Ach meine Tochter, war- um bist du blaß geworden, wie die Lilie des Gar- tens? Warum senket sich dein Haupt zur Erden? -- Ach meine Mutter, laß mich schweigen, und mein Leid nicht kund thun! Ach, ich kann nicht reden; laß mich schweigen, Mutter! Bringt die welke Blum' in Schatten, daß sie wieder aufleb in der kühlen Dämmerung des Klosters! Warum willst du trauren, meine Tochter, in der Einsamkeit des Klosters? Warum soll ich einsam seyn mit deinem Vater, und nicht blühen sehen deine Schönheit, daß sich unser Herz daran ergötze!
Ach, mein Vater, meine Mutter trauren, und ich darf nicht reden. Meine Schönheit kann nicht blühen vor euren Augen. Seht ihr nie die Rose, wie sie welkte, weil ein Wurm in ihrem Busen
tagshimmel; mild dein Laͤcheln, wie die Abendſon- ne; golden ſind deine Locken, wie die goldbeſaͤum- ten Wolken, wenn die Sonne ſinkt. Der du jezt ſchon ſo lieblich biſt, wie wirſt du einſt geſchmuͤckt ſeyn in den Tagen der Belohnung! Wie einher- gehn unter Engeln und Gerechten!
Jch bin blaß geworden wie die Lilie des Gar- tens, und mein Haupt ſenkt ſich zur Erde. Meine Mutter weint und traurt: Ach meine Tochter, war- um biſt du blaß geworden, wie die Lilie des Gar- tens? Warum ſenket ſich dein Haupt zur Erden? — Ach meine Mutter, laß mich ſchweigen, und mein Leid nicht kund thun! Ach, ich kann nicht reden; laß mich ſchweigen, Mutter! Bringt die welke Blum’ in Schatten, daß ſie wieder aufleb in der kuͤhlen Daͤmmerung des Kloſters! Warum willſt du trauren, meine Tochter, in der Einſamkeit des Kloſters? Warum ſoll ich einſam ſeyn mit deinem Vater, und nicht bluͤhen ſehen deine Schoͤnheit, daß ſich unſer Herz daran ergoͤtze!
Ach, mein Vater, meine Mutter trauren, und ich darf nicht reden. Meine Schoͤnheit kann nicht bluͤhen vor euren Augen. Seht ihr nie die Roſe, wie ſie welkte, weil ein Wurm in ihrem Buſen
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tagshimmel; mild dein Laͤcheln, wie die Abendſon-
ne; golden ſind deine Locken, wie die goldbeſaͤum-
ten Wolken, wenn die Sonne ſinkt. Der du jezt
ſchon ſo lieblich biſt, wie wirſt du einſt geſchmuͤckt
ſeyn in den Tagen der Belohnung! Wie einher-
gehn unter Engeln und Gerechten!
Jch bin blaß geworden wie die Lilie des Gar-
tens, und mein Haupt ſenkt ſich zur Erde. Meine
Mutter weint und traurt: Ach meine Tochter, war-
um biſt du blaß geworden, wie die Lilie des Gar-
tens? Warum ſenket ſich dein Haupt zur Erden? —
Ach meine Mutter, laß mich ſchweigen, und mein
Leid nicht kund thun! Ach, ich kann nicht reden;
laß mich ſchweigen, Mutter! Bringt die welke
Blum’ in Schatten, daß ſie wieder aufleb in der
kuͤhlen Daͤmmerung des Kloſters! Warum willſt
du trauren, meine Tochter, in der Einſamkeit des
Kloſters? Warum ſoll ich einſam ſeyn mit deinem
Vater, und nicht bluͤhen ſehen deine Schoͤnheit,
daß ſich unſer Herz daran ergoͤtze!
Ach, mein Vater, meine Mutter trauren, und
ich darf nicht reden. Meine Schoͤnheit kann nicht
bluͤhen vor euren Augen. Seht ihr nie die Roſe,
wie ſie welkte, weil ein Wurm in ihrem Buſen
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/104>, abgerufen am 25.11.2024.
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