Horch! das Käuzlein ruft herab vom Kirchthurm! Hu! ich zittre. -- Schön war der Abend, mein Erwählter! Deine Flöte klang süß, wie das Lied der Liebe. Hell schien der Mond, aber traurig. Ach, ich sah ihn wohl, wie er hinter eine Wolke trat und weinte. Aber du hasts nicht gesehen, wie ich mit ihm weinte. Lieblich sang die Nachtigall, aber traurig. Jch hört es wohl, und dachte, der arme Vogel liebt wie ich; aber, du Erwählter, dach- test's nicht. Wehmütig warst du, wie ein Lieben- der, und liebtest nicht. Thränen flossen dir vom Aug, und Liebe hieß sie nicht fliessen. -- Sagen wollt ichs dir, daß ich dich liebe. Meine Stimme zitterte und ward ein Seufzer. O ein Engel Got- tes hielt das Wort zurück, das dich betrübt, mich nichts geholfen hätte, denn du liebst nicht; wün- schest nie zu lieben. --
Jns Kloster willst du gehn, mein Auserwähl- ter, willst ein Heiliger werden, und bist schon so heilig. Aber ich bins nicht; Liebe flammt in mei- nem Herzen. Gott du weist es, fromme Liebe; aber dennoch Liebe, und er liebt nicht. Nun so will ich dann hingehn, wo mein Auserwählter hin- geht! will vor Gott treten, und mich heiligen. Nimm mich an um seinetwillen, weil er heilig ist,
Horch! das Kaͤuzlein ruft herab vom Kirchthurm! Hu! ich zittre. — Schoͤn war der Abend, mein Erwaͤhlter! Deine Floͤte klang ſuͤß, wie das Lied der Liebe. Hell ſchien der Mond, aber traurig. Ach, ich ſah ihn wohl, wie er hinter eine Wolke trat und weinte. Aber du haſts nicht geſehen, wie ich mit ihm weinte. Lieblich ſang die Nachtigall, aber traurig. Jch hoͤrt es wohl, und dachte, der arme Vogel liebt wie ich; aber, du Erwaͤhlter, dach- teſt’s nicht. Wehmuͤtig warſt du, wie ein Lieben- der, und liebteſt nicht. Thraͤnen floſſen dir vom Aug, und Liebe hieß ſie nicht flieſſen. — Sagen wollt ichs dir, daß ich dich liebe. Meine Stimme zitterte und ward ein Seufzer. O ein Engel Got- tes hielt das Wort zuruͤck, das dich betruͤbt, mich nichts geholfen haͤtte, denn du liebſt nicht; wuͤn- ſcheſt nie zu lieben. —
Jns Kloſter willſt du gehn, mein Auserwaͤhl- ter, willſt ein Heiliger werden, und biſt ſchon ſo heilig. Aber ich bins nicht; Liebe flammt in mei- nem Herzen. Gott du weiſt es, fromme Liebe; aber dennoch Liebe, und er liebt nicht. Nun ſo will ich dann hingehn, wo mein Auserwaͤhlter hin- geht! will vor Gott treten, und mich heiligen. Nimm mich an um ſeinetwillen, weil er heilig iſt,
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Horch! das Kaͤuzlein ruft herab vom Kirchthurm!
Hu! ich zittre. — Schoͤn war der Abend, mein
Erwaͤhlter! Deine Floͤte klang ſuͤß, wie das Lied
der Liebe. Hell ſchien der Mond, aber traurig.
Ach, ich ſah ihn wohl, wie er hinter eine Wolke
trat und weinte. Aber du haſts nicht geſehen, wie
ich mit ihm weinte. Lieblich ſang die Nachtigall,
aber traurig. Jch hoͤrt es wohl, und dachte, der
arme Vogel liebt wie ich; aber, du Erwaͤhlter, dach-
teſt’s nicht. Wehmuͤtig warſt du, wie ein Lieben-
der, und liebteſt nicht. Thraͤnen floſſen dir vom
Aug, und Liebe hieß ſie nicht flieſſen. — Sagen
wollt ichs dir, daß ich dich liebe. Meine Stimme
zitterte und ward ein Seufzer. O ein Engel Got-
tes hielt das Wort zuruͤck, das dich betruͤbt, mich
nichts geholfen haͤtte, denn du liebſt nicht; wuͤn-
ſcheſt nie zu lieben. —
Jns Kloſter willſt du gehn, mein Auserwaͤhl-
ter, willſt ein Heiliger werden, und biſt ſchon ſo
heilig. Aber ich bins nicht; Liebe flammt in mei-
nem Herzen. Gott du weiſt es, fromme Liebe;
aber dennoch Liebe, und er liebt nicht. Nun ſo
will ich dann hingehn, wo mein Auserwaͤhlter hin-
geht! will vor Gott treten, und mich heiligen.
Nimm mich an um ſeinetwillen, weil er heilig iſt,
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/102>, abgerufen am 25.11.2024.
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