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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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und deswegen alle Augenblicke durch die Winke
ihres Mannes einen Verweis bekam. Er schämte
sich und ward roth, so oft sie den Mund öfnete,
obgleich ihre Reden nicht selten weiser und ver-
ständiger waren, als die seinigen. Er belehrte sie
sehr oft und gab sich dabey ein recht stattliches,
vielbedeutendes Ansehen. Die Tochter, Sophie,
war ein artiges Mädchen, dem der Vater eine
vornehme und gute Erziehung hatte geben lassen.
Sie hatte dunkelblaue, tiefliegende Augen, in de-
nen sich viel Schwärmerisches ausdrückte. Jhr
ganzes Gesicht verrieth überhaupt viel Anlage
zum Nachdenken und zur Melancholie. Jhr Au-
ge ruhte oft lang auf Siegwarts Gesicht, der ihr
schon eine ziemliche Zeit, und besonders heut in
der Komödie vorzüglich gefallen hatte. Sie
sprach wenig, aber sehr bestimmt, und mit vieler
Wahrheit und Empfindung. Jhre Aufmerksamkeit
auf Siegwart wurde von memand besonders be-
merkt, obgleich der Vater unzufrieden war, daß
sie so wenig spräche. Nach Tische muste sie sich
auf dem Klavier hören lassen, welches sie mit
vieler Fertigkeit und wahrem Ausdruck spielte.
Alle waren sehr damit zufrieden, und besonders
lobte sie unser Siegwart, welcher, vermöge seines



und deswegen alle Augenblicke durch die Winke
ihres Mannes einen Verweis bekam. Er ſchaͤmte
ſich und ward roth, ſo oft ſie den Mund oͤfnete,
obgleich ihre Reden nicht ſelten weiſer und ver-
ſtaͤndiger waren, als die ſeinigen. Er belehrte ſie
ſehr oft und gab ſich dabey ein recht ſtattliches,
vielbedeutendes Anſehen. Die Tochter, Sophie,
war ein artiges Maͤdchen, dem der Vater eine
vornehme und gute Erziehung hatte geben laſſen.
Sie hatte dunkelblaue, tiefliegende Augen, in de-
nen ſich viel Schwaͤrmeriſches ausdruͤckte. Jhr
ganzes Geſicht verrieth uͤberhaupt viel Anlage
zum Nachdenken und zur Melancholie. Jhr Au-
ge ruhte oft lang auf Siegwarts Geſicht, der ihr
ſchon eine ziemliche Zeit, und beſonders heut in
der Komoͤdie vorzuͤglich gefallen hatte. Sie
ſprach wenig, aber ſehr beſtimmt, und mit vieler
Wahrheit und Empfindung. Jhre Aufmerkſamkeit
auf Siegwart wurde von memand beſonders be-
merkt, obgleich der Vater unzufrieden war, daß
ſie ſo wenig ſpraͤche. Nach Tiſche muſte ſie ſich
auf dem Klavier hoͤren laſſen, welches ſie mit
vieler Fertigkeit und wahrem Ausdruck ſpielte.
Alle waren ſehr damit zufrieden, und beſonders
lobte ſie unſer Siegwart, welcher, vermoͤge ſeines

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[336/0340] und deswegen alle Augenblicke durch die Winke ihres Mannes einen Verweis bekam. Er ſchaͤmte ſich und ward roth, ſo oft ſie den Mund oͤfnete, obgleich ihre Reden nicht ſelten weiſer und ver- ſtaͤndiger waren, als die ſeinigen. Er belehrte ſie ſehr oft und gab ſich dabey ein recht ſtattliches, vielbedeutendes Anſehen. Die Tochter, Sophie, war ein artiges Maͤdchen, dem der Vater eine vornehme und gute Erziehung hatte geben laſſen. Sie hatte dunkelblaue, tiefliegende Augen, in de- nen ſich viel Schwaͤrmeriſches ausdruͤckte. Jhr ganzes Geſicht verrieth uͤberhaupt viel Anlage zum Nachdenken und zur Melancholie. Jhr Au- ge ruhte oft lang auf Siegwarts Geſicht, der ihr ſchon eine ziemliche Zeit, und beſonders heut in der Komoͤdie vorzuͤglich gefallen hatte. Sie ſprach wenig, aber ſehr beſtimmt, und mit vieler Wahrheit und Empfindung. Jhre Aufmerkſamkeit auf Siegwart wurde von memand beſonders be- merkt, obgleich der Vater unzufrieden war, daß ſie ſo wenig ſpraͤche. Nach Tiſche muſte ſie ſich auf dem Klavier hoͤren laſſen, welches ſie mit vieler Fertigkeit und wahrem Ausdruck ſpielte. Alle waren ſehr damit zufrieden, und beſonders lobte ſie unſer Siegwart, welcher, vermoͤge ſeines

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/340>, abgerufen am 22.11.2024.