Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.als ob sie sagte: Kommen Sie! wir wollen ein- ander heyrathen! Wahre Liebe spricht nicht! Man kann sich Jahrelang lieben, ohn' es sich zu sagen! Man könnte zwar ihr Betragen schwäbische Of- fenherzigkeit, ländliche Einfalt und naives Wesen nennen; aber mich deucht, das ist ganz was an- ders. Das weibliche Geschlecht kann bey seiner Feinheit der Empfindung so nicht reden. Es muß immer, besonders bey der Liebe, einen gewissen Stolz, eine edle Würde beybehalten, und sich nie, wenn ich so sagen darf, selbst feil bieten! Niemand schätzt einen offenen Charakter, und ein ungezwung- nes, ungeziertes Wesen mehr, als ich. Ein Mäd- chen, das mit einer gewissen Anmuth und Einfalt seine Meynung frey und offenherzig sagt, ist das angenehmste Geschöpf; und diese Gabe scheint deine Schwester, deiner Erzählung und den Brie- fen nach, die ich von ihr sah, in einem ganz vorzüglichen Maaße zu besitzen. Aber frag dich selbst, ob du das bey Reginen auch findest? Ob durch ihr gerades Wesen nicht die weibliche De- likatesse beleidigt werden muß? Siegwart. Das ist schon gut, Kronhelm; als ob ſie ſagte: Kommen Sie! wir wollen ein- ander heyrathen! Wahre Liebe ſpricht nicht! Man kann ſich Jahrelang lieben, ohn’ es ſich zu ſagen! Man koͤnnte zwar ihr Betragen ſchwaͤbiſche Of- fenherzigkeit, laͤndliche Einfalt und naives Weſen nennen; aber mich deucht, das iſt ganz was an- ders. Das weibliche Geſchlecht kann bey ſeiner Feinheit der Empfindung ſo nicht reden. Es muß immer, beſonders bey der Liebe, einen gewiſſen Stolz, eine edle Wuͤrde beybehalten, und ſich nie, wenn ich ſo ſagen darf, ſelbſt feil bieten! Niemand ſchaͤtzt einen offenen Charakter, und ein ungezwung- nes, ungeziertes Weſen mehr, als ich. Ein Maͤd- chen, das mit einer gewiſſen Anmuth und Einfalt ſeine Meynung frey und offenherzig ſagt, iſt das angenehmſte Geſchoͤpf; und dieſe Gabe ſcheint deine Schweſter, deiner Erzaͤhlung und den Brie- fen nach, die ich von ihr ſah, in einem ganz vorzuͤglichen Maaße zu beſitzen. Aber frag dich ſelbſt, ob du das bey Reginen auch findeſt? Ob durch ihr gerades Weſen nicht die weibliche De- likateſſe beleidigt werden muß? Siegwart. Das iſt ſchon gut, Kronhelm; <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0297" n="293"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> als ob ſie ſagte: Kommen Sie! wir wollen ein-<lb/> ander heyrathen! Wahre Liebe ſpricht nicht! Man<lb/> kann ſich Jahrelang lieben, ohn’ es ſich zu ſagen!<lb/> Man koͤnnte zwar ihr Betragen ſchwaͤbiſche Of-<lb/> fenherzigkeit, laͤndliche Einfalt und naives Weſen<lb/> nennen; aber mich deucht, das iſt ganz was an-<lb/> ders. Das weibliche Geſchlecht kann bey ſeiner<lb/> Feinheit der Empfindung ſo nicht reden. Es muß<lb/> immer, beſonders bey der Liebe, einen gewiſſen<lb/> Stolz, eine edle Wuͤrde beybehalten, und ſich nie,<lb/> wenn ich ſo ſagen darf, ſelbſt feil bieten! Niemand<lb/> ſchaͤtzt einen offenen Charakter, und ein ungezwung-<lb/> nes, ungeziertes Weſen mehr, als ich. Ein Maͤd-<lb/> chen, das mit einer gewiſſen Anmuth und Einfalt<lb/> ſeine Meynung frey und offenherzig ſagt, iſt das<lb/> angenehmſte Geſchoͤpf; und dieſe Gabe ſcheint<lb/> deine Schweſter, deiner Erzaͤhlung und den Brie-<lb/> fen nach, die ich von ihr ſah, in einem ganz<lb/> vorzuͤglichen Maaße zu beſitzen. Aber frag dich<lb/> ſelbſt, ob du das bey <hi rendition="#fr">Reginen</hi> auch findeſt? Ob<lb/> durch ihr gerades Weſen nicht die weibliche De-<lb/> likateſſe beleidigt werden muß?</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Siegwart.</hi> Das iſt ſchon gut, <hi rendition="#fr">Kronhelm;</hi><lb/> aber bey dem Fraͤulein kanns ein Fehler der Er-<lb/> ziehung ſeyn; und dann muͤſſen wir doch das be-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [293/0297]
als ob ſie ſagte: Kommen Sie! wir wollen ein-
ander heyrathen! Wahre Liebe ſpricht nicht! Man
kann ſich Jahrelang lieben, ohn’ es ſich zu ſagen!
Man koͤnnte zwar ihr Betragen ſchwaͤbiſche Of-
fenherzigkeit, laͤndliche Einfalt und naives Weſen
nennen; aber mich deucht, das iſt ganz was an-
ders. Das weibliche Geſchlecht kann bey ſeiner
Feinheit der Empfindung ſo nicht reden. Es muß
immer, beſonders bey der Liebe, einen gewiſſen
Stolz, eine edle Wuͤrde beybehalten, und ſich nie,
wenn ich ſo ſagen darf, ſelbſt feil bieten! Niemand
ſchaͤtzt einen offenen Charakter, und ein ungezwung-
nes, ungeziertes Weſen mehr, als ich. Ein Maͤd-
chen, das mit einer gewiſſen Anmuth und Einfalt
ſeine Meynung frey und offenherzig ſagt, iſt das
angenehmſte Geſchoͤpf; und dieſe Gabe ſcheint
deine Schweſter, deiner Erzaͤhlung und den Brie-
fen nach, die ich von ihr ſah, in einem ganz
vorzuͤglichen Maaße zu beſitzen. Aber frag dich
ſelbſt, ob du das bey Reginen auch findeſt? Ob
durch ihr gerades Weſen nicht die weibliche De-
likateſſe beleidigt werden muß?
Siegwart. Das iſt ſchon gut, Kronhelm;
aber bey dem Fraͤulein kanns ein Fehler der Er-
ziehung ſeyn; und dann muͤſſen wir doch das be-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |