vom Jrrdischen abziehen, und in Gottes Liebe ver- senken kann; und da ist die Klosterregel gewiß das beste Mittel dazu. Jch sage nicht, daß alle Men- schen das Gelübde ablegen sollen, aber wer es thun und halten kann, der thut wol, und sorgt für seine Ruhe.
Aber, fiel der alte Siegwart ein, auch für das Glück der Welt, für seine Brüder? denn das sind doch alle Menschen. Vergib mir diesen Ein- wurf, ich weiß wol, daß man ihn bey uns nicht laut machen darf, aber bey Dir darf ichs wol.
Du hast Recht, sagte Anton, ich hab oft drü- ber nachgedacht, und anfangs konnt ich mich nicht sogleich beruhigen; aber, ich denke, wenn man so lebt wie ich, und es so gut meynt, dann thut man seiner Pflicht genug. Sieh' ich will dir meinen jetzigen Lebenslauf erzählen. Ein Tag ist wie der andre. Des Morgens steh ich früh auf, im Som- mer mit der Sonne, und im Winter um 6 Uhr; dann halt ich meine eigne Morgenandacht, lese mein Brevier, oder geh im Garten spatzieren; dann studir ich etwas, lese in der Vulgata, im heiligen Chrysostomus, oder sonst in einem guten und erbaulichen Buche, deren unsre Bibliothek ge- nug hat. Dann sing ich meine Horas, oder lese
vom Jrrdiſchen abziehen, und in Gottes Liebe ver- ſenken kann; und da iſt die Kloſterregel gewiß das beſte Mittel dazu. Jch ſage nicht, daß alle Men- ſchen das Geluͤbde ablegen ſollen, aber wer es thun und halten kann, der thut wol, und ſorgt fuͤr ſeine Ruhe.
Aber, fiel der alte Siegwart ein, auch fuͤr das Gluͤck der Welt, fuͤr ſeine Bruͤder? denn das ſind doch alle Menſchen. Vergib mir dieſen Ein- wurf, ich weiß wol, daß man ihn bey uns nicht laut machen darf, aber bey Dir darf ichs wol.
Du haſt Recht, ſagte Anton, ich hab oft druͤ- ber nachgedacht, und anfangs konnt ich mich nicht ſogleich beruhigen; aber, ich denke, wenn man ſo lebt wie ich, und es ſo gut meynt, dann thut man ſeiner Pflicht genug. Sieh’ ich will dir meinen jetzigen Lebenslauf erzaͤhlen. Ein Tag iſt wie der andre. Des Morgens ſteh ich fruͤh auf, im Som- mer mit der Sonne, und im Winter um 6 Uhr; dann halt ich meine eigne Morgenandacht, leſe mein Brevier, oder geh im Garten ſpatzieren; dann ſtudir ich etwas, leſe in der Vulgata, im heiligen Chryſoſtomus, oder ſonſt in einem guten und erbaulichen Buche, deren unſre Bibliothek ge- nug hat. Dann ſing ich meine Horas, oder leſe
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vom Jrrdiſchen abziehen, und in Gottes Liebe ver-
ſenken kann; und da iſt die Kloſterregel gewiß das
beſte Mittel dazu. Jch ſage nicht, daß alle Men-
ſchen das Geluͤbde ablegen ſollen, aber wer es thun
und halten kann, der thut wol, und ſorgt fuͤr ſeine
Ruhe.
Aber, fiel der alte Siegwart ein, auch fuͤr
das Gluͤck der Welt, fuͤr ſeine Bruͤder? denn das
ſind doch alle Menſchen. Vergib mir dieſen Ein-
wurf, ich weiß wol, daß man ihn bey uns nicht
laut machen darf, aber bey Dir darf ichs wol.
Du haſt Recht, ſagte Anton, ich hab oft druͤ-
ber nachgedacht, und anfangs konnt ich mich nicht
ſogleich beruhigen; aber, ich denke, wenn man ſo
lebt wie ich, und es ſo gut meynt, dann thut man
ſeiner Pflicht genug. Sieh’ ich will dir meinen
jetzigen Lebenslauf erzaͤhlen. Ein Tag iſt wie der
andre. Des Morgens ſteh ich fruͤh auf, im Som-
mer mit der Sonne, und im Winter um 6 Uhr;
dann halt ich meine eigne Morgenandacht, leſe
mein Brevier, oder geh im Garten ſpatzieren;
dann ſtudir ich etwas, leſe in der Vulgata, im
heiligen Chryſoſtomus, oder ſonſt in einem guten
und erbaulichen Buche, deren unſre Bibliothek ge-
nug hat. Dann ſing ich meine Horas, oder leſe
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/24>, abgerufen am 21.11.2024.
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