Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.lenkte alle seine Handlungen; und Geschmack und Weltkentnis machten alles, was er that, und sprach, angenehm. Meine Mutter hatte ihn zu ihrem vertrautesten Freund gemacht, und zog ihn bey al- lem, was sie mit uns vornahm, erst zu Rath. Jn ihrer letzten Krankheit vor drey Jahren mußte er beständig um sie seyn, sie unterhalten, und ihr aus geistlichen Büchern vorlesen. Jhre letzte Mine lächelte ihm Dank zu, und erinnerte ihn ans Wie- dersehn im Himmel. Von ihrem Tode kann ich dir nur wenig sagen, Siegwart, denn das Anden- ken daran ist mir viel zu traurig. Sie lag lange krank, und litt viel, aber immer mit Geduld und himmlischer Gelassenheit. Den Tag vor ihrem Tode ließ sie uns noch alle zu sich kommen. Wir knieten um ihr Bett herum, und glaubten zu ver- gehen. Sie faßte sich, wie ein Mann; betete mit nie empfundner Jnnbrunst; und gab uns ihren Segen. Jch kann dir nicht sagen, Freund, was das für ein Auftritt war, und welchen tiefen Ein- druck er, auf mein ganzes Leben, in mein Herz ge- macht hat. Bey ihrem Tode waren wir nicht ge- genwärtig; sie starb früh; Friedmann war allein bey ihr, und wollte uns nicht rufen, um uns den P
lenkte alle ſeine Handlungen; und Geſchmack und Weltkentnis machten alles, was er that, und ſprach, angenehm. Meine Mutter hatte ihn zu ihrem vertrauteſten Freund gemacht, und zog ihn bey al- lem, was ſie mit uns vornahm, erſt zu Rath. Jn ihrer letzten Krankheit vor drey Jahren mußte er beſtaͤndig um ſie ſeyn, ſie unterhalten, und ihr aus geiſtlichen Buͤchern vorleſen. Jhre letzte Mine laͤchelte ihm Dank zu, und erinnerte ihn ans Wie- derſehn im Himmel. Von ihrem Tode kann ich dir nur wenig ſagen, Siegwart, denn das Anden- ken daran iſt mir viel zu traurig. Sie lag lange krank, und litt viel, aber immer mit Geduld und himmliſcher Gelaſſenheit. Den Tag vor ihrem Tode ließ ſie uns noch alle zu ſich kommen. Wir knieten um ihr Bett herum, und glaubten zu ver- gehen. Sie faßte ſich, wie ein Mann; betete mit nie empfundner Jnnbrunſt; und gab uns ihren Segen. Jch kann dir nicht ſagen, Freund, was das fuͤr ein Auftritt war, und welchen tiefen Ein- druck er, auf mein ganzes Leben, in mein Herz ge- macht hat. Bey ihrem Tode waren wir nicht ge- genwaͤrtig; ſie ſtarb fruͤh; Friedmann war allein bey ihr, und wollte uns nicht rufen, um uns den P
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0229" n="225"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> lenkte alle ſeine Handlungen; und Geſchmack und<lb/> Weltkentnis machten alles, was er that, und ſprach,<lb/> angenehm. Meine Mutter hatte ihn zu ihrem<lb/> vertrauteſten Freund gemacht, und zog ihn bey al-<lb/> lem, was ſie mit uns vornahm, erſt zu Rath. Jn<lb/> ihrer letzten Krankheit vor drey Jahren mußte er<lb/> beſtaͤndig um ſie ſeyn, ſie unterhalten, und ihr aus<lb/> geiſtlichen Buͤchern vorleſen. Jhre letzte Mine<lb/> laͤchelte ihm Dank zu, und erinnerte ihn ans Wie-<lb/> derſehn im Himmel. Von ihrem Tode kann ich<lb/> dir nur wenig ſagen, <hi rendition="#fr">Siegwart,</hi> denn das Anden-<lb/> ken daran iſt mir viel zu traurig. Sie lag lange<lb/> krank, und litt viel, aber immer mit Geduld und<lb/> himmliſcher Gelaſſenheit. Den Tag vor ihrem<lb/> Tode ließ ſie uns noch alle zu ſich kommen. Wir<lb/> knieten um ihr Bett herum, und glaubten zu ver-<lb/> gehen. Sie faßte ſich, wie ein Mann; betete mit<lb/> nie empfundner Jnnbrunſt; und gab uns ihren<lb/> Segen. Jch kann dir nicht ſagen, Freund, was<lb/> das fuͤr ein Auftritt war, und welchen tiefen Ein-<lb/> druck er, auf mein ganzes Leben, in mein Herz ge-<lb/> macht hat. Bey ihrem Tode waren wir nicht ge-<lb/> genwaͤrtig; ſie ſtarb fruͤh; <hi rendition="#fr">Friedmann</hi> war allein<lb/> bey ihr, und wollte uns nicht rufen, um uns den<lb/> <fw place="bottom" type="sig">P</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [225/0229]
lenkte alle ſeine Handlungen; und Geſchmack und
Weltkentnis machten alles, was er that, und ſprach,
angenehm. Meine Mutter hatte ihn zu ihrem
vertrauteſten Freund gemacht, und zog ihn bey al-
lem, was ſie mit uns vornahm, erſt zu Rath. Jn
ihrer letzten Krankheit vor drey Jahren mußte er
beſtaͤndig um ſie ſeyn, ſie unterhalten, und ihr aus
geiſtlichen Buͤchern vorleſen. Jhre letzte Mine
laͤchelte ihm Dank zu, und erinnerte ihn ans Wie-
derſehn im Himmel. Von ihrem Tode kann ich
dir nur wenig ſagen, Siegwart, denn das Anden-
ken daran iſt mir viel zu traurig. Sie lag lange
krank, und litt viel, aber immer mit Geduld und
himmliſcher Gelaſſenheit. Den Tag vor ihrem
Tode ließ ſie uns noch alle zu ſich kommen. Wir
knieten um ihr Bett herum, und glaubten zu ver-
gehen. Sie faßte ſich, wie ein Mann; betete mit
nie empfundner Jnnbrunſt; und gab uns ihren
Segen. Jch kann dir nicht ſagen, Freund, was
das fuͤr ein Auftritt war, und welchen tiefen Ein-
druck er, auf mein ganzes Leben, in mein Herz ge-
macht hat. Bey ihrem Tode waren wir nicht ge-
genwaͤrtig; ſie ſtarb fruͤh; Friedmann war allein
bey ihr, und wollte uns nicht rufen, um uns den
P
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |