Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.erbarm dich mein, und stirb! Jhr Geschmack war so sicher, daß ihr nicht das geringste Gute oder Böse an einer Handlung entwischte. Sie folg- te immer der Natur; Jhre Kleidung zeugte von der grösten Einfalt; sie gieng nie prächtig; aber immer reinlich und zierlich. Von uns war sie die vertrauteste Freundinn, vor der wir keine Heimlich- keiten hatten. Sie sorgte vor die Bildung unsers Herzens, und gab uns einen treuen Leiter unsers kindischen Verstandes, den rechtschaffnen Fried- mann, der uns alles wurde; dem wir, nächst ihr, alles zu verdanken haben. Er kam als ein Mensch von zwanzig Jahren zu uns, und blieb bey uns bis in sein dreissigstes. Die Treue, die er an uns bewieß, kann man von keinem Vater grösser erwar- ten. Alle seine Zeit, und alle seine Kräfte waren uns gewidmet. Er hatte viele und ausgebreitete Kenntnisse, die er uns mit unermüdeter Geduld und lauter Liebe einzuflössen suchte. Sein Herz war des sanfreste und beste. Sein Gesicht drückte die gan- zo stille Ruhe seiner Seele aus. Er war immer ernst, und doch beständig heiter. Alle seine Reden lehr- ten Weisheit, ohne daß man eine Absicht an ihm merkte, sie zu lehren. Die Religion, für die er, auch im äusserlichen die gröste Ehrerbietung hatte, erbarm dich mein, und ſtirb! Jhr Geſchmack war ſo ſicher, daß ihr nicht das geringſte Gute oder Boͤſe an einer Handlung entwiſchte. Sie folg- te immer der Natur; Jhre Kleidung zeugte von der groͤſten Einfalt; ſie gieng nie praͤchtig; aber immer reinlich und zierlich. Von uns war ſie die vertrauteſte Freundinn, vor der wir keine Heimlich- keiten hatten. Sie ſorgte vor die Bildung unſers Herzens, und gab uns einen treuen Leiter unſers kindiſchen Verſtandes, den rechtſchaffnen Fried- mann, der uns alles wurde; dem wir, naͤchſt ihr, alles zu verdanken haben. Er kam als ein Menſch von zwanzig Jahren zu uns, und blieb bey uns bis in ſein dreiſſigſtes. Die Treue, die er an uns bewieß, kann man von keinem Vater groͤſſer erwar- ten. Alle ſeine Zeit, und alle ſeine Kraͤfte waren uns gewidmet. Er hatte viele und ausgebreitete Kenntniſſe, die er uns mit unermuͤdeter Geduld und lauter Liebe einzufloͤſſen ſuchte. Sein Herz war des ſanfreſte und beſte. Sein Geſicht druͤckte die gan- zo ſtille Ruhe ſeiner Seele aus. Er war immer ernſt, und doch beſtaͤndig heiter. Alle ſeine Reden lehr- ten Weisheit, ohne daß man eine Abſicht an ihm merkte, ſie zu lehren. Die Religion, fuͤr die er, auch im aͤuſſerlichen die groͤſte Ehrerbietung hatte, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0228" n="224"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> erbarm dich mein, und ſtirb! Jhr Geſchmack<lb/> war ſo ſicher, daß ihr nicht das geringſte Gute<lb/> oder Boͤſe an einer Handlung entwiſchte. Sie folg-<lb/> te immer der Natur; Jhre Kleidung zeugte von<lb/> der groͤſten Einfalt; ſie gieng nie praͤchtig; aber<lb/> immer reinlich und zierlich. Von uns war ſie die<lb/> vertrauteſte Freundinn, vor der wir keine Heimlich-<lb/> keiten hatten. Sie ſorgte vor die Bildung unſers<lb/> Herzens, und gab uns einen treuen Leiter unſers<lb/> kindiſchen Verſtandes, den rechtſchaffnen Fried-<lb/> mann, der uns alles wurde; dem wir, naͤchſt ihr,<lb/> alles zu verdanken haben. Er kam als ein Menſch<lb/> von zwanzig Jahren zu uns, und blieb bey uns<lb/> bis in ſein dreiſſigſtes. Die Treue, die er an uns<lb/> bewieß, kann man von keinem Vater groͤſſer erwar-<lb/> ten. Alle ſeine Zeit, und alle ſeine Kraͤfte waren<lb/> uns gewidmet. Er hatte viele und ausgebreitete<lb/> Kenntniſſe, die er uns mit unermuͤdeter Geduld<lb/> und lauter Liebe einzufloͤſſen ſuchte. Sein Herz war<lb/> des ſanfreſte und beſte. Sein Geſicht druͤckte die gan-<lb/> zo ſtille Ruhe ſeiner Seele aus. Er war immer ernſt,<lb/> und doch beſtaͤndig heiter. Alle ſeine Reden lehr-<lb/> ten Weisheit, ohne daß man eine Abſicht an ihm<lb/> merkte, ſie zu lehren. Die Religion, fuͤr die er,<lb/> auch im aͤuſſerlichen die groͤſte Ehrerbietung hatte,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [224/0228]
erbarm dich mein, und ſtirb! Jhr Geſchmack
war ſo ſicher, daß ihr nicht das geringſte Gute
oder Boͤſe an einer Handlung entwiſchte. Sie folg-
te immer der Natur; Jhre Kleidung zeugte von
der groͤſten Einfalt; ſie gieng nie praͤchtig; aber
immer reinlich und zierlich. Von uns war ſie die
vertrauteſte Freundinn, vor der wir keine Heimlich-
keiten hatten. Sie ſorgte vor die Bildung unſers
Herzens, und gab uns einen treuen Leiter unſers
kindiſchen Verſtandes, den rechtſchaffnen Fried-
mann, der uns alles wurde; dem wir, naͤchſt ihr,
alles zu verdanken haben. Er kam als ein Menſch
von zwanzig Jahren zu uns, und blieb bey uns
bis in ſein dreiſſigſtes. Die Treue, die er an uns
bewieß, kann man von keinem Vater groͤſſer erwar-
ten. Alle ſeine Zeit, und alle ſeine Kraͤfte waren
uns gewidmet. Er hatte viele und ausgebreitete
Kenntniſſe, die er uns mit unermuͤdeter Geduld
und lauter Liebe einzufloͤſſen ſuchte. Sein Herz war
des ſanfreſte und beſte. Sein Geſicht druͤckte die gan-
zo ſtille Ruhe ſeiner Seele aus. Er war immer ernſt,
und doch beſtaͤndig heiter. Alle ſeine Reden lehr-
ten Weisheit, ohne daß man eine Abſicht an ihm
merkte, ſie zu lehren. Die Religion, fuͤr die er,
auch im aͤuſſerlichen die groͤſte Ehrerbietung hatte,
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