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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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sie mit uns in ihrer Kammer, betete mit Thrä-
nen um das Wohl, und die Erleuchtung unsers
Vaters; um unser zeitliches Glück, um die Erhal-
tung unserer Unschuld, und daß sie uns einmal alle
wieder bey sich im Himmel versammelt sehen möch-
te! Dieses Krucifix hier auf dem Tisch ist mir ewig
heilig. Sie hatte es in ihrer Kammer, kniete
oft davor mit heisser Jnnbrunst, und benetzte es
mit ihren Thränen. Nie hab ich von unsrer hei-
ligen Religion mit solcher Einfalt, mit solcher Wür-
de, und mit solcher innigen Empfindung sprechen
hören. So äusserst zart von Gefühl, und so ängst-
lich sie auch von Natur war, so streng auch ihre
Grundsätze von Religion und Tugend waren,
so verleitete sie dieses doch nie zur Lieblosigkeit
in Beurtheilung anderer. Sie war streng,
aber gegen sich am strengsten. Wenn sie sich zu-
weilen auch wegen andrer, und besonders wegen
ihrer Kinder, zu vielen, auch wol ungegründeten
Kummer machte, so war doch die Quelle davon
so rein, so edel, daß ihr gewiß jedes dieser Leiden
ewig wird vergolten werden. Die Religion gab
ihrem Herzen die gröste Festigkeit; sie würde,
wenn ich jemals von ihr wanken könnte, mit der
Muter der sieben Brüder gesagt haben: Sohn,



ſie mit uns in ihrer Kammer, betete mit Thraͤ-
nen um das Wohl, und die Erleuchtung unſers
Vaters; um unſer zeitliches Gluͤck, um die Erhal-
tung unſerer Unſchuld, und daß ſie uns einmal alle
wieder bey ſich im Himmel verſammelt ſehen moͤch-
te! Dieſes Krucifix hier auf dem Tiſch iſt mir ewig
heilig. Sie hatte es in ihrer Kammer, kniete
oft davor mit heiſſer Jnnbrunſt, und benetzte es
mit ihren Thraͤnen. Nie hab ich von unſrer hei-
ligen Religion mit ſolcher Einfalt, mit ſolcher Wuͤr-
de, und mit ſolcher innigen Empfindung ſprechen
hoͤren. So aͤuſſerſt zart von Gefuͤhl, und ſo aͤngſt-
lich ſie auch von Natur war, ſo ſtreng auch ihre
Grundſaͤtze von Religion und Tugend waren,
ſo verleitete ſie dieſes doch nie zur Liebloſigkeit
in Beurtheilung anderer. Sie war ſtreng,
aber gegen ſich am ſtrengſten. Wenn ſie ſich zu-
weilen auch wegen andrer, und beſonders wegen
ihrer Kinder, zu vielen, auch wol ungegruͤndeten
Kummer machte, ſo war doch die Quelle davon
ſo rein, ſo edel, daß ihr gewiß jedes dieſer Leiden
ewig wird vergolten werden. Die Religion gab
ihrem Herzen die groͤſte Feſtigkeit; ſie wuͤrde,
wenn ich jemals von ihr wanken koͤnnte, mit der
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[223/0227] ſie mit uns in ihrer Kammer, betete mit Thraͤ- nen um das Wohl, und die Erleuchtung unſers Vaters; um unſer zeitliches Gluͤck, um die Erhal- tung unſerer Unſchuld, und daß ſie uns einmal alle wieder bey ſich im Himmel verſammelt ſehen moͤch- te! Dieſes Krucifix hier auf dem Tiſch iſt mir ewig heilig. Sie hatte es in ihrer Kammer, kniete oft davor mit heiſſer Jnnbrunſt, und benetzte es mit ihren Thraͤnen. Nie hab ich von unſrer hei- ligen Religion mit ſolcher Einfalt, mit ſolcher Wuͤr- de, und mit ſolcher innigen Empfindung ſprechen hoͤren. So aͤuſſerſt zart von Gefuͤhl, und ſo aͤngſt- lich ſie auch von Natur war, ſo ſtreng auch ihre Grundſaͤtze von Religion und Tugend waren, ſo verleitete ſie dieſes doch nie zur Liebloſigkeit in Beurtheilung anderer. Sie war ſtreng, aber gegen ſich am ſtrengſten. Wenn ſie ſich zu- weilen auch wegen andrer, und beſonders wegen ihrer Kinder, zu vielen, auch wol ungegruͤndeten Kummer machte, ſo war doch die Quelle davon ſo rein, ſo edel, daß ihr gewiß jedes dieſer Leiden ewig wird vergolten werden. Die Religion gab ihrem Herzen die groͤſte Feſtigkeit; ſie wuͤrde, wenn ich jemals von ihr wanken koͤnnte, mit der Muter der ſieben Bruͤder geſagt haben: Sohn,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/227>, abgerufen am 24.11.2024.