Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



weggehen mußte, wenn sie nicht roth werden woll-
te. Kunigunde, so heist die Person, that meiner
Mutter alles mögliche Herzeleid an; stichelte auf
sie; gab ihr grobe Reden; und sagte oft, daß sie
nur aus Gnaden auf dem Schloß sey. Mir
und meinem Bruder, und meinen zwey Schwestern
begegnete sie aufs grausamste, schimpfte auf uns,
schlug uns nach Gefallen, und lehrte meine Schwe-
stern die leichtsinnigsten Zoten und Lieder. Meine
Mutter, die sonst Stärke der Seele genug hat-
te, konnte das nicht länger ansehen; sie für sich
hätte gern gelitten; aber wir daurten sie zu sehr;
sie hielt also bey meinem Vater an, ob sie mit
uns auf ein entferntes Gut ziehen dürste, das
ihm zugehört? Er willigte mit Freuden ein, denn
das war längst seine und Kunigundens Absicht
gewesen, die ihm deswegen immer in den Ohren
gelegen hatte. -- Wir reißten also mit unsrer
Mutter nach Wißdorf, wo wir unter ihrer Auf-
sicht die treflichste Erziehung genossen, die ich ihr
noch tausendmal im Grab verdanken muß. Sie
hatte das zarteste Gefühl des Herzens, das bey
jedem fremden Elend mit litt, und an jeder Freu-
de ihrer Nebenmenschen Antheil nahm. Sie war
eine Wohlthäterinn der ganzen Gegend; verarm-



weggehen mußte, wenn ſie nicht roth werden woll-
te. Kunigunde, ſo heiſt die Perſon, that meiner
Mutter alles moͤgliche Herzeleid an; ſtichelte auf
ſie; gab ihr grobe Reden; und ſagte oft, daß ſie
nur aus Gnaden auf dem Schloß ſey. Mir
und meinem Bruder, und meinen zwey Schweſtern
begegnete ſie aufs grauſamſte, ſchimpfte auf uns,
ſchlug uns nach Gefallen, und lehrte meine Schwe-
ſtern die leichtſinnigſten Zoten und Lieder. Meine
Mutter, die ſonſt Staͤrke der Seele genug hat-
te, konnte das nicht laͤnger anſehen; ſie fuͤr ſich
haͤtte gern gelitten; aber wir daurten ſie zu ſehr;
ſie hielt alſo bey meinem Vater an, ob ſie mit
uns auf ein entferntes Gut ziehen duͤrſte, das
ihm zugehoͤrt? Er willigte mit Freuden ein, denn
das war laͤngſt ſeine und Kunigundens Abſicht
geweſen, die ihm deswegen immer in den Ohren
gelegen hatte. — Wir reißten alſo mit unſrer
Mutter nach Wißdorf, wo wir unter ihrer Auf-
ſicht die treflichſte Erziehung genoſſen, die ich ihr
noch tauſendmal im Grab verdanken muß. Sie
hatte das zarteſte Gefuͤhl des Herzens, das bey
jedem fremden Elend mit litt, und an jeder Freu-
de ihrer Nebenmenſchen Antheil nahm. Sie war
eine Wohlthaͤterinn der ganzen Gegend; verarm-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0225" n="221"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
weggehen mußte, wenn &#x017F;ie nicht roth werden woll-<lb/>
te. <hi rendition="#fr">Kunigunde,</hi> &#x017F;o hei&#x017F;t die Per&#x017F;on, that meiner<lb/>
Mutter alles mo&#x0364;gliche Herzeleid an; &#x017F;tichelte auf<lb/>
&#x017F;ie; gab ihr grobe Reden; und &#x017F;agte oft, daß &#x017F;ie<lb/>
nur aus Gnaden auf dem Schloß &#x017F;ey. Mir<lb/>
und meinem Bruder, und meinen zwey Schwe&#x017F;tern<lb/>
begegnete &#x017F;ie aufs grau&#x017F;am&#x017F;te, &#x017F;chimpfte auf uns,<lb/>
&#x017F;chlug uns nach Gefallen, und lehrte meine Schwe-<lb/>
&#x017F;tern die leicht&#x017F;innig&#x017F;ten Zoten und Lieder. Meine<lb/>
Mutter, die &#x017F;on&#x017F;t Sta&#x0364;rke der Seele genug hat-<lb/>
te, konnte das nicht la&#x0364;nger an&#x017F;ehen; &#x017F;ie fu&#x0364;r &#x017F;ich<lb/>
ha&#x0364;tte gern gelitten; aber wir daurten &#x017F;ie zu &#x017F;ehr;<lb/>
&#x017F;ie hielt al&#x017F;o bey meinem Vater an, ob &#x017F;ie mit<lb/>
uns auf ein entferntes Gut ziehen du&#x0364;r&#x017F;te, das<lb/>
ihm zugeho&#x0364;rt? Er willigte mit Freuden ein, denn<lb/>
das war la&#x0364;ng&#x017F;t &#x017F;eine und <hi rendition="#fr">Kunigundens</hi> Ab&#x017F;icht<lb/>
gewe&#x017F;en, die ihm deswegen immer in den Ohren<lb/>
gelegen hatte. &#x2014; Wir reißten al&#x017F;o mit un&#x017F;rer<lb/>
Mutter nach <hi rendition="#fr">Wißdorf,</hi> wo wir unter ihrer Auf-<lb/>
&#x017F;icht die treflich&#x017F;te Erziehung geno&#x017F;&#x017F;en, die ich ihr<lb/>
noch tau&#x017F;endmal im Grab verdanken muß. Sie<lb/>
hatte das zarte&#x017F;te Gefu&#x0364;hl des Herzens, das bey<lb/>
jedem fremden Elend mit litt, und an jeder Freu-<lb/>
de ihrer Nebenmen&#x017F;chen Antheil nahm. Sie war<lb/>
eine Wohltha&#x0364;terinn der ganzen Gegend; verarm-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[221/0225] weggehen mußte, wenn ſie nicht roth werden woll- te. Kunigunde, ſo heiſt die Perſon, that meiner Mutter alles moͤgliche Herzeleid an; ſtichelte auf ſie; gab ihr grobe Reden; und ſagte oft, daß ſie nur aus Gnaden auf dem Schloß ſey. Mir und meinem Bruder, und meinen zwey Schweſtern begegnete ſie aufs grauſamſte, ſchimpfte auf uns, ſchlug uns nach Gefallen, und lehrte meine Schwe- ſtern die leichtſinnigſten Zoten und Lieder. Meine Mutter, die ſonſt Staͤrke der Seele genug hat- te, konnte das nicht laͤnger anſehen; ſie fuͤr ſich haͤtte gern gelitten; aber wir daurten ſie zu ſehr; ſie hielt alſo bey meinem Vater an, ob ſie mit uns auf ein entferntes Gut ziehen duͤrſte, das ihm zugehoͤrt? Er willigte mit Freuden ein, denn das war laͤngſt ſeine und Kunigundens Abſicht geweſen, die ihm deswegen immer in den Ohren gelegen hatte. — Wir reißten alſo mit unſrer Mutter nach Wißdorf, wo wir unter ihrer Auf- ſicht die treflichſte Erziehung genoſſen, die ich ihr noch tauſendmal im Grab verdanken muß. Sie hatte das zarteſte Gefuͤhl des Herzens, das bey jedem fremden Elend mit litt, und an jeder Freu- de ihrer Nebenmenſchen Antheil nahm. Sie war eine Wohlthaͤterinn der ganzen Gegend; verarm-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/225
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/225>, abgerufen am 24.11.2024.