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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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lipp oder Kronhelm anzublicken, die mit innigem
Mitleid ihn betrachteten, und in seiner Reue seine
ganze Seele lasen. Den Abend brachte er allein
auf seinem Zimmer in der tiessten Wehmuth zu;
sein Herz machte ihm tausend Vorwürse, daß er
den edeln Pater und seinen lieben Kronhelm durch
sein Betragen so beleidigt, und ihrer Freundschaft
den Umgang mit einem Bösewicht vorgezogen hat-
te. Sein Vergehen vergrösserte sich in seinen Au-
gen, und so großmütig er sich auch die beyden dach-
te, so konnte er doch nicht glauben, daß sie ihm
verzeihen, und ihn wieder ihrer Freundschaft wür-
digen würden. Er gieng trostlos in seinem Zim-
mer auf und ab, blickte aus dem Fenster, und
übersah mit kalter Gleichgültigkeit die schöne Do-
naugegend, die jetzt keine Reize für ihn hatte;
dann nahm er seine Violine, phantasirte wild und
schwermütig; warf die Geige wieder weg; kurz, sein
ganzes Daseyn wurde ihm zur Last. Jndem klopfte je-
mand an die Thür, und Kronhelm trat herein. Sieg-
wart
erschrack, fuhr zusammen, stund auf, wollte re-
den, und konnte nicht.

Xaver, sagte Kronhelm, komm ich dir unge-
legen? Sags nur! ich will nachher wieder kom-
men. Hast du was zu thun?



lipp oder Kronhelm anzublicken, die mit innigem
Mitleid ihn betrachteten, und in ſeiner Reue ſeine
ganze Seele laſen. Den Abend brachte er allein
auf ſeinem Zimmer in der tieſſten Wehmuth zu;
ſein Herz machte ihm tauſend Vorwuͤrſe, daß er
den edeln Pater und ſeinen lieben Kronhelm durch
ſein Betragen ſo beleidigt, und ihrer Freundſchaft
den Umgang mit einem Boͤſewicht vorgezogen hat-
te. Sein Vergehen vergroͤſſerte ſich in ſeinen Au-
gen, und ſo großmuͤtig er ſich auch die beyden dach-
te, ſo konnte er doch nicht glauben, daß ſie ihm
verzeihen, und ihn wieder ihrer Freundſchaft wuͤr-
digen wuͤrden. Er gieng troſtlos in ſeinem Zim-
mer auf und ab, blickte aus dem Fenſter, und
uͤberſah mit kalter Gleichguͤltigkeit die ſchoͤne Do-
naugegend, die jetzt keine Reize fuͤr ihn hatte;
dann nahm er ſeine Violine, phantaſirte wild und
ſchwermuͤtig; warf die Geige wieder weg; kurz, ſein
ganzes Daſeyn wurde ihm zur Laſt. Jndem klopfte je-
mand an die Thuͤr, und Kronhelm trat herein. Sieg-
wart
erſchrack, fuhr zuſammen, ſtund auf, wollte re-
den, und konnte nicht.

Xaver, ſagte Kronhelm, komm ich dir unge-
legen? Sags nur! ich will nachher wieder kom-
men. Haſt du was zu thun?

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[205/0209] lipp oder Kronhelm anzublicken, die mit innigem Mitleid ihn betrachteten, und in ſeiner Reue ſeine ganze Seele laſen. Den Abend brachte er allein auf ſeinem Zimmer in der tieſſten Wehmuth zu; ſein Herz machte ihm tauſend Vorwuͤrſe, daß er den edeln Pater und ſeinen lieben Kronhelm durch ſein Betragen ſo beleidigt, und ihrer Freundſchaft den Umgang mit einem Boͤſewicht vorgezogen hat- te. Sein Vergehen vergroͤſſerte ſich in ſeinen Au- gen, und ſo großmuͤtig er ſich auch die beyden dach- te, ſo konnte er doch nicht glauben, daß ſie ihm verzeihen, und ihn wieder ihrer Freundſchaft wuͤr- digen wuͤrden. Er gieng troſtlos in ſeinem Zim- mer auf und ab, blickte aus dem Fenſter, und uͤberſah mit kalter Gleichguͤltigkeit die ſchoͤne Do- naugegend, die jetzt keine Reize fuͤr ihn hatte; dann nahm er ſeine Violine, phantaſirte wild und ſchwermuͤtig; warf die Geige wieder weg; kurz, ſein ganzes Daſeyn wurde ihm zur Laſt. Jndem klopfte je- mand an die Thuͤr, und Kronhelm trat herein. Sieg- wart erſchrack, fuhr zuſammen, ſtund auf, wollte re- den, und konnte nicht. Xaver, ſagte Kronhelm, komm ich dir unge- legen? Sags nur! ich will nachher wieder kom- men. Haſt du was zu thun?

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/209>, abgerufen am 24.11.2024.