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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Der Bösewicht ward sortgebracht, und nun
beratschlagte man sich über seine Strafe. Der ein-
müthige Entschluß war, ihn so lang gefangen zu
halten, bis sein Vater Nachricht von ihm hätte,
der ihn dann vermutlich ins Zuchthaus, oder unter
die Soldaten stecken würde. Nun besprach man
sich auch über Siegwart. Weil ihm alle gut wa-
ren, und besonders P. Philipp nachdrücklich für
ihn sprach, so beschlossen sie, ihm, als einem Neu-
eingetretenen aufs gelindeste zu begegnen, und ihn
blos zu warnen, künftig vorsichtiger zu seyn. Man
lud ihn nicht einmal vor den Schulkonvent, son-
dern P. Johann übernahm es, mit ihm auf sei-
nem Zimmer zu sprechen; welches er auch sogleich,
und mir der grösten Liebe that. Siegwart ward
dadurch mehr gerührt, als wenn man ihn gestraft
hätte, und er bat mit tausend Thränen um Verge-
bung. Ueber Kreutzners Bosheit konnte er sich
nicht genug wundern; denn sein Herz war zu gut,
als daß er glauben konnte, ein Mensch sey im
Stande, es so weit zu treiben. Man brachte ihm
seine Oberhemden wieder, die er, da er in derglei-
chen Dingen etwas sorglos war, noch gar nicht
vermißt hatte. Bey Tische wagte er es nicht, die
Augen aufzuschlagen, und noch weniger den P. Phi-



Der Boͤſewicht ward ſortgebracht, und nun
beratſchlagte man ſich uͤber ſeine Strafe. Der ein-
muͤthige Entſchluß war, ihn ſo lang gefangen zu
halten, bis ſein Vater Nachricht von ihm haͤtte,
der ihn dann vermutlich ins Zuchthaus, oder unter
die Soldaten ſtecken wuͤrde. Nun beſprach man
ſich auch uͤber Siegwart. Weil ihm alle gut wa-
ren, und beſonders P. Philipp nachdruͤcklich fuͤr
ihn ſprach, ſo beſchloſſen ſie, ihm, als einem Neu-
eingetretenen aufs gelindeſte zu begegnen, und ihn
blos zu warnen, kuͤnftig vorſichtiger zu ſeyn. Man
lud ihn nicht einmal vor den Schulkonvent, ſon-
dern P. Johann uͤbernahm es, mit ihm auf ſei-
nem Zimmer zu ſprechen; welches er auch ſogleich,
und mir der groͤſten Liebe that. Siegwart ward
dadurch mehr geruͤhrt, als wenn man ihn geſtraft
haͤtte, und er bat mit tauſend Thraͤnen um Verge-
bung. Ueber Kreutzners Bosheit konnte er ſich
nicht genug wundern; denn ſein Herz war zu gut,
als daß er glauben konnte, ein Menſch ſey im
Stande, es ſo weit zu treiben. Man brachte ihm
ſeine Oberhemden wieder, die er, da er in derglei-
chen Dingen etwas ſorglos war, noch gar nicht
vermißt hatte. Bey Tiſche wagte er es nicht, die
Augen aufzuſchlagen, und noch weniger den P. Phi-

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[204/0208] Der Boͤſewicht ward ſortgebracht, und nun beratſchlagte man ſich uͤber ſeine Strafe. Der ein- muͤthige Entſchluß war, ihn ſo lang gefangen zu halten, bis ſein Vater Nachricht von ihm haͤtte, der ihn dann vermutlich ins Zuchthaus, oder unter die Soldaten ſtecken wuͤrde. Nun beſprach man ſich auch uͤber Siegwart. Weil ihm alle gut wa- ren, und beſonders P. Philipp nachdruͤcklich fuͤr ihn ſprach, ſo beſchloſſen ſie, ihm, als einem Neu- eingetretenen aufs gelindeſte zu begegnen, und ihn blos zu warnen, kuͤnftig vorſichtiger zu ſeyn. Man lud ihn nicht einmal vor den Schulkonvent, ſon- dern P. Johann uͤbernahm es, mit ihm auf ſei- nem Zimmer zu ſprechen; welches er auch ſogleich, und mir der groͤſten Liebe that. Siegwart ward dadurch mehr geruͤhrt, als wenn man ihn geſtraft haͤtte, und er bat mit tauſend Thraͤnen um Verge- bung. Ueber Kreutzners Bosheit konnte er ſich nicht genug wundern; denn ſein Herz war zu gut, als daß er glauben konnte, ein Menſch ſey im Stande, es ſo weit zu treiben. Man brachte ihm ſeine Oberhemden wieder, die er, da er in derglei- chen Dingen etwas ſorglos war, noch gar nicht vermißt hatte. Bey Tiſche wagte er es nicht, die Augen aufzuſchlagen, und noch weniger den P. Phi-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/208>, abgerufen am 24.11.2024.