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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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ne Stunde lang so fort, bis ein Hirte, der die
Kühe nach der Weide trieb, seine Aufmerksamkeit
auf sich zog. Der alte Mann, der nur halb mit
Lumpen bedeckt war, sang mit frohem Herzen und
klarer Stimme sein Morgenlied, daß Busch und
Hain wiederklangen. Diese zufriedne Andacht
rührte unsern Siegwart im Jnnersten; er winkte
dem Hirten, gab ihm ein Sechskreutzerstück, und
Thränen schossen ihm in die Augen, als der Alte
ihm so herzlich dankte, und drauf sein Morgenlied
wieder fort sang. Eine Viertelstunde drauf hörte
er einen Gesang von ganz andrer Art, als er an
zehen oder zwölf halb besoffenen Rekruten vorbey-
kam, die von vier kaiserlichen Werbern nach dem
Werbplatz gebracht wurden, und die liederlichsten
Zoten sangen. Die Kerls riefen ihm Schimpf-
wörter nach, und schrien dann wieder: Vivat Fran-
ciscus! Vivat Theresia! Nur Einer von den Re-
kruten rührte ihn, der traurig hintennach schlich.
Er war gut gekleidet, hatte ein sittsames, feines
Gesicht, das mit düstrer Schwermuth überzogen
war. Allem Anschein nach war er von guten El-
tern, und durchs Unglück genötigt worden, Dienste
anzunehmen. Er zog vor Xavern freundlich den
Hut ab, der ihm, so lange er konnte, nachsah.



ne Stunde lang ſo fort, bis ein Hirte, der die
Kuͤhe nach der Weide trieb, ſeine Aufmerkſamkeit
auf ſich zog. Der alte Mann, der nur halb mit
Lumpen bedeckt war, ſang mit frohem Herzen und
klarer Stimme ſein Morgenlied, daß Buſch und
Hain wiederklangen. Dieſe zufriedne Andacht
ruͤhrte unſern Siegwart im Jnnerſten; er winkte
dem Hirten, gab ihm ein Sechskreutzerſtuͤck, und
Thraͤnen ſchoſſen ihm in die Augen, als der Alte
ihm ſo herzlich dankte, und drauf ſein Morgenlied
wieder fort ſang. Eine Viertelſtunde drauf hoͤrte
er einen Geſang von ganz andrer Art, als er an
zehen oder zwoͤlf halb beſoffenen Rekruten vorbey-
kam, die von vier kaiſerlichen Werbern nach dem
Werbplatz gebracht wurden, und die liederlichſten
Zoten ſangen. Die Kerls riefen ihm Schimpf-
woͤrter nach, und ſchrien dann wieder: Vivat Fran-
ciſcus! Vivat Thereſia! Nur Einer von den Re-
kruten ruͤhrte ihn, der traurig hintennach ſchlich.
Er war gut gekleidet, hatte ein ſittſames, feines
Geſicht, das mit duͤſtrer Schwermuth uͤberzogen
war. Allem Anſchein nach war er von guten El-
tern, und durchs Ungluͤck genoͤtigt worden, Dienſte
anzunehmen. Er zog vor Xavern freundlich den
Hut ab, der ihm, ſo lange er konnte, nachſah.

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[168/0172] ne Stunde lang ſo fort, bis ein Hirte, der die Kuͤhe nach der Weide trieb, ſeine Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Der alte Mann, der nur halb mit Lumpen bedeckt war, ſang mit frohem Herzen und klarer Stimme ſein Morgenlied, daß Buſch und Hain wiederklangen. Dieſe zufriedne Andacht ruͤhrte unſern Siegwart im Jnnerſten; er winkte dem Hirten, gab ihm ein Sechskreutzerſtuͤck, und Thraͤnen ſchoſſen ihm in die Augen, als der Alte ihm ſo herzlich dankte, und drauf ſein Morgenlied wieder fort ſang. Eine Viertelſtunde drauf hoͤrte er einen Geſang von ganz andrer Art, als er an zehen oder zwoͤlf halb beſoffenen Rekruten vorbey- kam, die von vier kaiſerlichen Werbern nach dem Werbplatz gebracht wurden, und die liederlichſten Zoten ſangen. Die Kerls riefen ihm Schimpf- woͤrter nach, und ſchrien dann wieder: Vivat Fran- ciſcus! Vivat Thereſia! Nur Einer von den Re- kruten ruͤhrte ihn, der traurig hintennach ſchlich. Er war gut gekleidet, hatte ein ſittſames, feines Geſicht, das mit duͤſtrer Schwermuth uͤberzogen war. Allem Anſchein nach war er von guten El- tern, und durchs Ungluͤck genoͤtigt worden, Dienſte anzunehmen. Er zog vor Xavern freundlich den Hut ab, der ihm, ſo lange er konnte, nachſah.

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/172>, abgerufen am 22.11.2024.