Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.merfenster, das in den Garten gieng, die Nach- tigall auf einem Apfelbaume sang, da wachte er schnell auf, ward munter, sprang aus dem Bette, hörte ihr unbeweglich zu, und sah mit Entzücken die Sonne hinter den Bäumen aufgehn. Noch lieber hörte er die Nachtigall des Abends, wenn die Blumen und die Apfelblüthen süsser dufteten, und alles stille war, und der Mond herabsah. Da hatte er Gefühle, die beym Jüngling, der ihm gleich ist, zu Liedern werden. Da dachte er oft an seinen Bruder, der vor 4 Jahren in seinem 6ten Jahr gestorben war, und machte einst ein Lied auf ihn; da vergaß er oft sich und die gan- ze Welt; da rief man ihn oft zum Abendessen, und er hörte nichts, bis ihn sein Bruder oder Va- ter fand, und zu Tische holte, wo er wehmüthig saß, und nichts sprach. Nach dem Abendessen lag er wieder unter seinem Kammerfenster, hörte bis 11 Uhr oder 12 Uhr der Nachtigall zu; wünschte nichts, als wie sie singen zu können, und träumte sich im Schlaf in paradiesische Gegenden zu sei- nem Bruder. Einen Abend nahm ihn sein Vater zu ei- merfenſter, das in den Garten gieng, die Nach- tigall auf einem Apfelbaume ſang, da wachte er ſchnell auf, ward munter, ſprang aus dem Bette, hoͤrte ihr unbeweglich zu, und ſah mit Entzuͤcken die Sonne hinter den Baͤumen aufgehn. Noch lieber hoͤrte er die Nachtigall des Abends, wenn die Blumen und die Apfelbluͤthen ſuͤſſer dufteten, und alles ſtille war, und der Mond herabſah. Da hatte er Gefuͤhle, die beym Juͤngling, der ihm gleich iſt, zu Liedern werden. Da dachte er oft an ſeinen Bruder, der vor 4 Jahren in ſeinem 6ten Jahr geſtorben war, und machte einſt ein Lied auf ihn; da vergaß er oft ſich und die gan- ze Welt; da rief man ihn oft zum Abendeſſen, und er hoͤrte nichts, bis ihn ſein Bruder oder Va- ter fand, und zu Tiſche holte, wo er wehmuͤthig ſaß, und nichts ſprach. Nach dem Abendeſſen lag er wieder unter ſeinem Kammerfenſter, hoͤrte bis 11 Uhr oder 12 Uhr der Nachtigall zu; wuͤnſchte nichts, als wie ſie ſingen zu koͤnnen, und traͤumte ſich im Schlaf in paradieſiſche Gegenden zu ſei- nem Bruder. Einen Abend nahm ihn ſein Vater zu ei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0015" n="11"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> merfenſter, das in den Garten gieng, die Nach-<lb/> tigall auf einem Apfelbaume ſang, da wachte er<lb/> ſchnell auf, ward munter, ſprang aus dem Bette,<lb/> hoͤrte ihr unbeweglich zu, und ſah mit Entzuͤcken<lb/> die Sonne hinter den Baͤumen aufgehn. Noch<lb/> lieber hoͤrte er die Nachtigall des Abends, wenn<lb/> die Blumen und die Apfelbluͤthen ſuͤſſer dufteten,<lb/> und alles ſtille war, und der Mond herabſah. Da<lb/> hatte er Gefuͤhle, die beym Juͤngling, der ihm<lb/> gleich iſt, zu Liedern werden. Da dachte er oft<lb/> an ſeinen Bruder, der vor 4 Jahren in ſeinem<lb/> 6ten Jahr geſtorben war, und machte einſt ein<lb/> Lied auf ihn; da vergaß er oft ſich und die gan-<lb/> ze Welt; da rief man ihn oft zum Abendeſſen,<lb/> und er hoͤrte nichts, bis ihn ſein Bruder oder Va-<lb/> ter fand, und zu Tiſche holte, wo er wehmuͤthig<lb/> ſaß, und nichts ſprach. Nach dem Abendeſſen lag<lb/> er wieder unter ſeinem Kammerfenſter, hoͤrte bis<lb/> 11 Uhr oder 12 Uhr der Nachtigall zu; wuͤnſchte<lb/> nichts, als wie ſie ſingen zu koͤnnen, und traͤumte<lb/> ſich im Schlaf in paradieſiſche Gegenden zu ſei-<lb/> nem Bruder.</p><lb/> <p>Einen Abend nahm ihn ſein Vater zu ei-<lb/> nem Spaziergange nach einem Kapuzinerkloſter<lb/> mit, wo dieſer einen alten guten Freund hatte.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [11/0015]
merfenſter, das in den Garten gieng, die Nach-
tigall auf einem Apfelbaume ſang, da wachte er
ſchnell auf, ward munter, ſprang aus dem Bette,
hoͤrte ihr unbeweglich zu, und ſah mit Entzuͤcken
die Sonne hinter den Baͤumen aufgehn. Noch
lieber hoͤrte er die Nachtigall des Abends, wenn
die Blumen und die Apfelbluͤthen ſuͤſſer dufteten,
und alles ſtille war, und der Mond herabſah. Da
hatte er Gefuͤhle, die beym Juͤngling, der ihm
gleich iſt, zu Liedern werden. Da dachte er oft
an ſeinen Bruder, der vor 4 Jahren in ſeinem
6ten Jahr geſtorben war, und machte einſt ein
Lied auf ihn; da vergaß er oft ſich und die gan-
ze Welt; da rief man ihn oft zum Abendeſſen,
und er hoͤrte nichts, bis ihn ſein Bruder oder Va-
ter fand, und zu Tiſche holte, wo er wehmuͤthig
ſaß, und nichts ſprach. Nach dem Abendeſſen lag
er wieder unter ſeinem Kammerfenſter, hoͤrte bis
11 Uhr oder 12 Uhr der Nachtigall zu; wuͤnſchte
nichts, als wie ſie ſingen zu koͤnnen, und traͤumte
ſich im Schlaf in paradieſiſche Gegenden zu ſei-
nem Bruder.
Einen Abend nahm ihn ſein Vater zu ei-
nem Spaziergange nach einem Kapuzinerkloſter
mit, wo dieſer einen alten guten Freund hatte.
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