Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



Vaters; foderte, die Mutter zu sprechen, und
durchstach sie mit dem Officiersdegen. Seitdem
weiß man nichts von ihm, wo er hingekommen
ist? Ein einzigsmal glaubte man ihn bey Nacht
im Klostergarten gespürt zu haben. Es stund je-
mand unten an der Zelle meiner Freundinn, und
sprang davon, als eine Nonne aus dem Fenster
sah. Sie schmachtete noch ein Jahr ihr Leben
hin, sah einem Todtengerippe ähnlicher, als einem
Menschen, sprach selten, und allein mit mir,
wenn ich bey ihr in der Zelle war. Ein einziges-
mal hatte sie Kraft genug, mit mir von ihm zu
sprechen, und mir die ganze Geschichte zu erzälen.
Sie beschloß damit: "Geh nicht ins Kloster,
Herzensfreundinn, was dir auch begegnet! Mitten
in meinem Elend war ich in der Welt noch glück-
licher, wo ich doch Freunde hatte!" Drey Wochen
nach diesem starb sie. Jhr letztes Wort war:
Jesus, stärk Jhn! -- -- Du bist gerührt, Xa-
ver!
Glaub mir, Bruder, solche unglückliche See-
len gibts im Kloster noch genug. Es ist ein
Sammelplatz von Elend. Die meisten hat das
Unglück hineingetrieben; und nun kommt die Reue
noch hinzu. Jch wüste nicht Eine Nonne, wo ich
war, die ihren Entschluß nicht bereut hätte, wenn



Vaters; foderte, die Mutter zu ſprechen, und
durchſtach ſie mit dem Officiersdegen. Seitdem
weiß man nichts von ihm, wo er hingekommen
iſt? Ein einzigsmal glaubte man ihn bey Nacht
im Kloſtergarten geſpuͤrt zu haben. Es ſtund je-
mand unten an der Zelle meiner Freundinn, und
ſprang davon, als eine Nonne aus dem Fenſter
ſah. Sie ſchmachtete noch ein Jahr ihr Leben
hin, ſah einem Todtengerippe aͤhnlicher, als einem
Menſchen, ſprach ſelten, und allein mit mir,
wenn ich bey ihr in der Zelle war. Ein einziges-
mal hatte ſie Kraft genug, mit mir von ihm zu
ſprechen, und mir die ganze Geſchichte zu erzaͤlen.
Sie beſchloß damit: „Geh nicht ins Kloſter,
Herzensfreundinn, was dir auch begegnet! Mitten
in meinem Elend war ich in der Welt noch gluͤck-
licher, wo ich doch Freunde hatte!‟ Drey Wochen
nach dieſem ſtarb ſie. Jhr letztes Wort war:
Jeſus, ſtaͤrk Jhn! — — Du biſt geruͤhrt, Xa-
ver!
Glaub mir, Bruder, ſolche ungluͤckliche See-
len gibts im Kloſter noch genug. Es iſt ein
Sammelplatz von Elend. Die meiſten hat das
Ungluͤck hineingetrieben; und nun kommt die Reue
noch hinzu. Jch wuͤſte nicht Eine Nonne, wo ich
war, die ihren Entſchluß nicht bereut haͤtte, wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0140" n="136"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Vaters; foderte, die Mutter zu &#x017F;prechen, und<lb/>
durch&#x017F;tach &#x017F;ie mit dem Officiersdegen. Seitdem<lb/>
weiß man nichts von ihm, wo er hingekommen<lb/>
i&#x017F;t? Ein einzigsmal glaubte man ihn bey Nacht<lb/>
im Klo&#x017F;tergarten ge&#x017F;pu&#x0364;rt zu haben. Es &#x017F;tund je-<lb/>
mand unten an der Zelle meiner Freundinn, und<lb/>
&#x017F;prang davon, als eine Nonne aus dem Fen&#x017F;ter<lb/>
&#x017F;ah. Sie &#x017F;chmachtete noch ein Jahr ihr Leben<lb/>
hin, &#x017F;ah einem Todtengerippe a&#x0364;hnlicher, als einem<lb/>
Men&#x017F;chen, &#x017F;prach &#x017F;elten, und allein mit mir,<lb/>
wenn ich bey ihr in der Zelle war. Ein einziges-<lb/>
mal hatte &#x017F;ie Kraft genug, mit mir von ihm zu<lb/>
&#x017F;prechen, und mir die ganze Ge&#x017F;chichte zu erza&#x0364;len.<lb/>
Sie be&#x017F;chloß damit: &#x201E;Geh nicht ins Klo&#x017F;ter,<lb/>
Herzensfreundinn, was dir auch begegnet! Mitten<lb/>
in meinem Elend war ich in der Welt noch glu&#x0364;ck-<lb/>
licher, wo ich doch Freunde hatte!&#x201F; Drey Wochen<lb/>
nach die&#x017F;em &#x017F;tarb &#x017F;ie. Jhr letztes Wort war:<lb/>
Je&#x017F;us, &#x017F;ta&#x0364;rk Jhn! &#x2014; &#x2014; Du bi&#x017F;t geru&#x0364;hrt, <hi rendition="#fr">Xa-<lb/>
ver!</hi> Glaub mir, Bruder, &#x017F;olche unglu&#x0364;ckliche See-<lb/>
len gibts im Klo&#x017F;ter noch genug. Es i&#x017F;t ein<lb/>
Sammelplatz von Elend. Die mei&#x017F;ten hat das<lb/>
Unglu&#x0364;ck hineingetrieben; und nun kommt die Reue<lb/>
noch hinzu. Jch wu&#x0364;&#x017F;te nicht Eine Nonne, wo ich<lb/>
war, die ihren Ent&#x017F;chluß nicht bereut ha&#x0364;tte, wenn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0140] Vaters; foderte, die Mutter zu ſprechen, und durchſtach ſie mit dem Officiersdegen. Seitdem weiß man nichts von ihm, wo er hingekommen iſt? Ein einzigsmal glaubte man ihn bey Nacht im Kloſtergarten geſpuͤrt zu haben. Es ſtund je- mand unten an der Zelle meiner Freundinn, und ſprang davon, als eine Nonne aus dem Fenſter ſah. Sie ſchmachtete noch ein Jahr ihr Leben hin, ſah einem Todtengerippe aͤhnlicher, als einem Menſchen, ſprach ſelten, und allein mit mir, wenn ich bey ihr in der Zelle war. Ein einziges- mal hatte ſie Kraft genug, mit mir von ihm zu ſprechen, und mir die ganze Geſchichte zu erzaͤlen. Sie beſchloß damit: „Geh nicht ins Kloſter, Herzensfreundinn, was dir auch begegnet! Mitten in meinem Elend war ich in der Welt noch gluͤck- licher, wo ich doch Freunde hatte!‟ Drey Wochen nach dieſem ſtarb ſie. Jhr letztes Wort war: Jeſus, ſtaͤrk Jhn! — — Du biſt geruͤhrt, Xa- ver! Glaub mir, Bruder, ſolche ungluͤckliche See- len gibts im Kloſter noch genug. Es iſt ein Sammelplatz von Elend. Die meiſten hat das Ungluͤck hineingetrieben; und nun kommt die Reue noch hinzu. Jch wuͤſte nicht Eine Nonne, wo ich war, die ihren Entſchluß nicht bereut haͤtte, wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/140
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/140>, abgerufen am 22.11.2024.