Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.und endlich über jedermann, besonders über ihre Schwester die Nase rümpfen, weil sie das Unglück hatte, besser auszusehn als sie, und den einfachen natürlichen Geschmack in Putz und Sitten, dem hö- kerichten parfumierten Stadtgeschmack vorzuzie- hen. Therese kannte die Stadt; sie war, nach dem Kloster, noch ein halbes Jahr da gewesen, und sehnte sich mit voller Seele in ihr stilles, ru- higes Dorf zurück; wo, statt des ewigen Getüm- mels der Karossen und der Menschen, Ruhe; Statt des cäremoniösen Wesens, das aus lügen- haften Komplimenten zusammengesetzt ist, alte deutsche schwäbische Offenherzigkeit; Statt der soge- nannten feinen Lebensart, unverfälschte Unschuld und Wahrheitsliebe; und statt des Prunks in Häusern und Gemächern, einfältige, ungekünstelte Natur ihren Thron aufgeschlagen hat. Gesellschaft brauchte sie nicht viel, weil sie immer beschäftigt war, und ihren Xaver um sich hatte. Zuweilen gieng sie mit des Postverwalters Tochter, einem stillen sittsamen Mädchen, um. Statt für Jhr Vergnügen in einem angenehmen Umgang mit Freundinnen zu sorgen, hielt sie es für eine grössere und höhere Pflicht, ihrem rechtschaffenen Vater, der, seit dem Tode seiner Frau, immer einsam gelebt hatte, Ver- und endlich uͤber jedermann, beſonders uͤber ihre Schweſter die Naſe ruͤmpfen, weil ſie das Ungluͤck hatte, beſſer auszuſehn als ſie, und den einfachen natuͤrlichen Geſchmack in Putz und Sitten, dem hoͤ- kerichten parfumierten Stadtgeſchmack vorzuzie- hen. Thereſe kannte die Stadt; ſie war, nach dem Kloſter, noch ein halbes Jahr da geweſen, und ſehnte ſich mit voller Seele in ihr ſtilles, ru- higes Dorf zuruͤck; wo, ſtatt des ewigen Getuͤm- mels der Karoſſen und der Menſchen, Ruhe; Statt des caͤremonioͤſen Weſens, das aus luͤgen- haften Komplimenten zuſammengeſetzt iſt, alte deutſche ſchwaͤbiſche Offenherzigkeit; Statt der ſoge- nannten feinen Lebensart, unverfaͤlſchte Unſchuld und Wahrheitsliebe; und ſtatt des Prunks in Haͤuſern und Gemaͤchern, einfaͤltige, ungekuͤnſtelte Natur ihren Thron aufgeſchlagen hat. Geſellſchaft brauchte ſie nicht viel, weil ſie immer beſchaͤftigt war, und ihren Xaver um ſich hatte. Zuweilen gieng ſie mit des Poſtverwalters Tochter, einem ſtillen ſittſamen Maͤdchen, um. Statt fuͤr Jhr Vergnuͤgen in einem angenehmen Umgang mit Freundinnen zu ſorgen, hielt ſie es fuͤr eine groͤſſere und hoͤhere Pflicht, ihrem rechtſchaffenen Vater, der, ſeit dem Tode ſeiner Frau, immer einſam gelebt hatte, Ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0122" n="118"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> und endlich uͤber jedermann, beſonders uͤber ihre<lb/> Schweſter die Naſe ruͤmpfen, weil ſie das Ungluͤck<lb/> hatte, beſſer auszuſehn als ſie, und den einfachen<lb/> natuͤrlichen Geſchmack in Putz und Sitten, dem hoͤ-<lb/> kerichten parfumierten Stadtgeſchmack vorzuzie-<lb/> hen. <hi rendition="#fr">Thereſe</hi> kannte die Stadt; ſie war, nach<lb/> dem Kloſter, noch ein halbes Jahr da geweſen,<lb/> und ſehnte ſich mit voller Seele in ihr ſtilles, ru-<lb/> higes Dorf zuruͤck; wo, ſtatt des ewigen Getuͤm-<lb/> mels der Karoſſen und der Menſchen, Ruhe;<lb/> Statt des caͤremonioͤſen Weſens, das aus luͤgen-<lb/> haften Komplimenten zuſammengeſetzt iſt, alte<lb/> deutſche ſchwaͤbiſche Offenherzigkeit; Statt der ſoge-<lb/> nannten feinen Lebensart, unverfaͤlſchte Unſchuld<lb/> und Wahrheitsliebe; und ſtatt des Prunks in<lb/> Haͤuſern und Gemaͤchern, einfaͤltige, ungekuͤnſtelte<lb/> Natur ihren Thron aufgeſchlagen hat. Geſellſchaft<lb/> brauchte ſie nicht viel, weil ſie immer beſchaͤftigt<lb/> war, und ihren <hi rendition="#fr">Xaver</hi> um ſich hatte. Zuweilen gieng<lb/> ſie mit des Poſtverwalters Tochter, einem ſtillen<lb/> ſittſamen Maͤdchen, um. Statt fuͤr Jhr Vergnuͤgen<lb/> in einem angenehmen Umgang mit Freundinnen zu<lb/> ſorgen, hielt ſie es fuͤr eine groͤſſere und hoͤhere<lb/> Pflicht, ihrem rechtſchaffenen Vater, der, ſeit dem<lb/> Tode ſeiner Frau, immer einſam gelebt hatte, Ver-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [118/0122]
und endlich uͤber jedermann, beſonders uͤber ihre
Schweſter die Naſe ruͤmpfen, weil ſie das Ungluͤck
hatte, beſſer auszuſehn als ſie, und den einfachen
natuͤrlichen Geſchmack in Putz und Sitten, dem hoͤ-
kerichten parfumierten Stadtgeſchmack vorzuzie-
hen. Thereſe kannte die Stadt; ſie war, nach
dem Kloſter, noch ein halbes Jahr da geweſen,
und ſehnte ſich mit voller Seele in ihr ſtilles, ru-
higes Dorf zuruͤck; wo, ſtatt des ewigen Getuͤm-
mels der Karoſſen und der Menſchen, Ruhe;
Statt des caͤremonioͤſen Weſens, das aus luͤgen-
haften Komplimenten zuſammengeſetzt iſt, alte
deutſche ſchwaͤbiſche Offenherzigkeit; Statt der ſoge-
nannten feinen Lebensart, unverfaͤlſchte Unſchuld
und Wahrheitsliebe; und ſtatt des Prunks in
Haͤuſern und Gemaͤchern, einfaͤltige, ungekuͤnſtelte
Natur ihren Thron aufgeſchlagen hat. Geſellſchaft
brauchte ſie nicht viel, weil ſie immer beſchaͤftigt
war, und ihren Xaver um ſich hatte. Zuweilen gieng
ſie mit des Poſtverwalters Tochter, einem ſtillen
ſittſamen Maͤdchen, um. Statt fuͤr Jhr Vergnuͤgen
in einem angenehmen Umgang mit Freundinnen zu
ſorgen, hielt ſie es fuͤr eine groͤſſere und hoͤhere
Pflicht, ihrem rechtſchaffenen Vater, der, ſeit dem
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