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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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III. Gedächtniß und Phantasie.
pedantische Diener hat eine Schwester, ein recht flinkes,
schmuckes Ding, nur etwas leichtfertig: die Phantasie. Er,
der gewissenhafte Custos, sorgt, daß das anvertraute Gut
keinen Schaden leidet, und stäubt es täglich behutsam ab, sie
jedoch hantirt hinter seinem Rücken mit den Sachen in einer
geheimnißvollen Weise so, daß sie im Laufe der Zeit unver-
merkt anders werden. -- Besser oder schlechter? . . . .

Im Uetli-Wirthshaus bei Zürich war es, wo ich in eine
erlesene Gesellschaft von Gelehrten und Künstlern zu kommen
das Glück, aber bald darauf das Unglück hatte, einen Zank-
apfel unter die Fröhlichen durch obige Frage zu werfen. Der
Streit wurde ebenso lebhaft als fruchtlos, denn Jeder wollte
sprechen und sprach, hören wollte und konnte Niemand. Nur
einzelne Schlagwörter drangen durch das Getöse, wie Berg-
spitzen durch Nebel. Der kluge Tourist bleibt einem Streite
fern, der überlaut geführt wird, ich trat daher an's Fenster,
nahm mein Büchlein zur Hand und die Miene an, als ob ich
Berge zeichnete, schrieb aber: "25/IV 186., Uetliwhs.,
Dr. A. aus B., Prof. C. aus D., Maler E. und F. aus G.
und J. K. L. M. Gedächtniß und Phantasie. Bruder treuer
Custos, Schwester schmuckes Ding, aber leichtfertig. Ihre
oder seine Dienste besser? Gelehrte (einig!): seine besser.
Künstler (auch einig, pünktlich und rasch fertig!): die ihrigen
besser, weit besser. Exacte Wissenschaft: blauer Dunst, nebel-
hafte Ferne, phantastische Gaukeleien. Poeten und Künstler:
was ist Wahrheit, gelehrter Zopf, verklärende Beleuchtung.
Dr. philos. A. vermittelnd, objectiv, subjectiv, höhere Ein-
heit . . . . . . . Gute Mahlzeit ... fr., Bier mittelmäßig, An-
theil an Bowle ... fr., Rückweg, Sturz, linkes Knie verletzt."
In der Weise pflege ich Notizen zu machen, bunt durch-
einander, gelegentlich wohl auch ein Gesicht oder einen Berg
zu zeichnen, entweder gleich an Ort und Stelle, oder an einem
Halteplatze während eines Anstiegs, oder im Wagen.

Zum bequemen Schreiben in freier Hand, namentlich im
Wagen, gehört eine steife Unterlage von nicht zu kleinem For-

III. Gedächtniß und Phantaſie.
pedantiſche Diener hat eine Schweſter, ein recht flinkes,
ſchmuckes Ding, nur etwas leichtfertig: die Phantaſie. Er,
der gewiſſenhafte Cuſtos, ſorgt, daß das anvertraute Gut
keinen Schaden leidet, und ſtäubt es täglich behutſam ab, ſie
jedoch hantirt hinter ſeinem Rücken mit den Sachen in einer
geheimnißvollen Weiſe ſo, daß ſie im Laufe der Zeit unver-
merkt anders werden. — Beſſer oder ſchlechter? . . . .

Im Uetli-Wirthshaus bei Zürich war es, wo ich in eine
erleſene Geſellſchaft von Gelehrten und Künſtlern zu kommen
das Glück, aber bald darauf das Unglück hatte, einen Zank-
apfel unter die Fröhlichen durch obige Frage zu werfen. Der
Streit wurde ebenſo lebhaft als fruchtlos, denn Jeder wollte
ſprechen und ſprach, hören wollte und konnte Niemand. Nur
einzelne Schlagwörter drangen durch das Getöſe, wie Berg-
ſpitzen durch Nebel. Der kluge Touriſt bleibt einem Streite
fern, der überlaut geführt wird, ich trat daher an’s Fenſter,
nahm mein Büchlein zur Hand und die Miene an, als ob ich
Berge zeichnete, ſchrieb aber: „25/IV 186., Uetliwhs.,
Dr. A. aus B., Prof. C. aus D., Maler E. und F. aus G.
und J. K. L. M. Gedächtniß und Phantaſie. Bruder treuer
Cuſtos, Schweſter ſchmuckes Ding, aber leichtfertig. Ihre
oder ſeine Dienſte beſſer? Gelehrte (einig!): ſeine beſſer.
Künſtler (auch einig, pünktlich und raſch fertig!): die ihrigen
beſſer, weit beſſer. Exacte Wiſſenſchaft: blauer Dunſt, nebel-
hafte Ferne, phantaſtiſche Gaukeleien. Poeten und Künſtler:
was iſt Wahrheit, gelehrter Zopf, verklärende Beleuchtung.
Dr. philos. A. vermittelnd, objectiv, ſubjectiv, höhere Ein-
heit . . . . . . . Gute Mahlzeit … fr., Bier mittelmäßig, An-
theil an Bowle … fr., Rückweg, Sturz, linkes Knie verletzt.“
In der Weiſe pflege ich Notizen zu machen, bunt durch-
einander, gelegentlich wohl auch ein Geſicht oder einen Berg
zu zeichnen, entweder gleich an Ort und Stelle, oder an einem
Halteplatze während eines Anſtiegs, oder im Wagen.

Zum bequemen Schreiben in freier Hand, namentlich im
Wagen, gehört eine ſteife Unterlage von nicht zu kleinem For-

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[59/0073] III. Gedächtniß und Phantaſie. pedantiſche Diener hat eine Schweſter, ein recht flinkes, ſchmuckes Ding, nur etwas leichtfertig: die Phantaſie. Er, der gewiſſenhafte Cuſtos, ſorgt, daß das anvertraute Gut keinen Schaden leidet, und ſtäubt es täglich behutſam ab, ſie jedoch hantirt hinter ſeinem Rücken mit den Sachen in einer geheimnißvollen Weiſe ſo, daß ſie im Laufe der Zeit unver- merkt anders werden. — Beſſer oder ſchlechter? . . . . Im Uetli-Wirthshaus bei Zürich war es, wo ich in eine erleſene Geſellſchaft von Gelehrten und Künſtlern zu kommen das Glück, aber bald darauf das Unglück hatte, einen Zank- apfel unter die Fröhlichen durch obige Frage zu werfen. Der Streit wurde ebenſo lebhaft als fruchtlos, denn Jeder wollte ſprechen und ſprach, hören wollte und konnte Niemand. Nur einzelne Schlagwörter drangen durch das Getöſe, wie Berg- ſpitzen durch Nebel. Der kluge Touriſt bleibt einem Streite fern, der überlaut geführt wird, ich trat daher an’s Fenſter, nahm mein Büchlein zur Hand und die Miene an, als ob ich Berge zeichnete, ſchrieb aber: „25/IV 186., Uetliwhs., Dr. A. aus B., Prof. C. aus D., Maler E. und F. aus G. und J. K. L. M. Gedächtniß und Phantaſie. Bruder treuer Cuſtos, Schweſter ſchmuckes Ding, aber leichtfertig. Ihre oder ſeine Dienſte beſſer? Gelehrte (einig!): ſeine beſſer. Künſtler (auch einig, pünktlich und raſch fertig!): die ihrigen beſſer, weit beſſer. Exacte Wiſſenſchaft: blauer Dunſt, nebel- hafte Ferne, phantaſtiſche Gaukeleien. Poeten und Künſtler: was iſt Wahrheit, gelehrter Zopf, verklärende Beleuchtung. Dr. philos. A. vermittelnd, objectiv, ſubjectiv, höhere Ein- heit . . . . . . . Gute Mahlzeit … fr., Bier mittelmäßig, An- theil an Bowle … fr., Rückweg, Sturz, linkes Knie verletzt.“ In der Weiſe pflege ich Notizen zu machen, bunt durch- einander, gelegentlich wohl auch ein Geſicht oder einen Berg zu zeichnen, entweder gleich an Ort und Stelle, oder an einem Halteplatze während eines Anſtiegs, oder im Wagen. Zum bequemen Schreiben in freier Hand, namentlich im Wagen, gehört eine ſteife Unterlage von nicht zu kleinem For-

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/73>, abgerufen am 28.11.2024.