Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.III. Zur Kleiderordnung -- eine Lebensrettung. Ziel nie kurz vor die Abreise gesteckt, sondern stets ein Respect-tag in die Rechnung aufgenommen. Gesagt, gethan. Hat man auf einer kleineren Excursion sich nicht gehörig vor- gesehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut sich plötzlich ein eisiger Nordost auf, so wird das nächste Bauern- haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüsch oder sonstiges ge- schütztes Plätzchen aufgesucht, die Reisetasche geöffnet, das Nachthemd unter das Oberhemd und was sie sonst noch etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taschentuch über den Baumwollstrumpf geschlagen u. dergl. m. Strenge Kleider- ordnung ist überhaupt nicht aufrecht zu halten, der Codex turisticus gestattet sogar als Nothwehr schwere Gewaltthaten. Einen Commentar zu diesem Paragraphen mag folgendes Geschichtchen liefern. Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour III. Zur Kleiderordnung — eine Lebensrettung. Ziel nie kurz vor die Abreiſe geſteckt, ſondern ſtets ein Reſpect-tag in die Rechnung aufgenommen. Geſagt, gethan. Hat man auf einer kleineren Excurſion ſich nicht gehörig vor- geſehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut ſich plötzlich ein eiſiger Nordoſt auf, ſo wird das nächſte Bauern- haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüſch oder ſonſtiges ge- ſchütztes Plätzchen aufgeſucht, die Reiſetaſche geöffnet, das Nachthemd unter das Oberhemd und was ſie ſonſt noch etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taſchentuch über den Baumwollſtrumpf geſchlagen u. dergl. m. Strenge Kleider- ordnung iſt überhaupt nicht aufrecht zu halten, der Codex turisticus geſtattet ſogar als Nothwehr ſchwere Gewaltthaten. Einen Commentar zu dieſem Paragraphen mag folgendes Geſchichtchen liefern. Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0044" n="30"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Zur Kleiderordnung — eine Lebensrettung.</fw><lb/> Ziel nie kurz vor die Abreiſe geſteckt, ſondern ſtets ein Reſpect-<lb/> tag in die Rechnung aufgenommen. Geſagt, gethan. Hat<lb/> man auf einer kleineren Excurſion ſich nicht gehörig vor-<lb/> geſehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut ſich<lb/> plötzlich ein eiſiger Nordoſt auf, ſo wird das nächſte Bauern-<lb/> haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüſch oder ſonſtiges ge-<lb/> ſchütztes Plätzchen aufgeſucht, die Reiſetaſche geöffnet, das<lb/> Nachthemd unter das Oberhemd und was ſie ſonſt noch<lb/> etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taſchentuch über den<lb/> Baumwollſtrumpf geſchlagen u. dergl. m. Strenge Kleider-<lb/> ordnung iſt überhaupt nicht aufrecht zu halten, der <hi rendition="#aq">Codex<lb/> turisticus</hi> geſtattet ſogar als Nothwehr ſchwere Gewaltthaten.<lb/> Einen Commentar zu dieſem Paragraphen mag folgendes<lb/> Geſchichtchen liefern.</p><lb/> <p>Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour<lb/> über’s Stilfſer Joch ein junges Ehepaar, um den Comerſee<lb/> zu beſuchen. Wir waren zuſammen in <placeName>Meran</placeName> bei herrlichem<lb/> Wetter in den Wagen geſtiegen, je mehr wir uns aber dem<lb/> Paß näherten, je rauher wurde es. Das Geſpräch ſtockte,<lb/> die Geſichter erbleichten, die Naſen errötheten. Der Mann,<lb/> der am meiſten fror, war leicht gekleidet und hatte, obwohl<lb/> offenbar kränklich, wie ſich ſpäter ergab, im Rauſche des<lb/> Flitterwochenglücks, ſein ganzes Gepäck vorausgeſchickt, und<lb/> bei ſich außer ſeiner Liebe nur Kleinigkeiten, z. B. ein Thermo-<lb/> meterchen, das zwei Grad über Null nachwies, und eine<lb/> Taſchenausgabe von <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118613200">Seneca</persName>. Nicht einmal mit einem Plaid<lb/> war der Unbeſonnene verſehen! Weder die Philoſophie des<lb/> Hispaniers, noch die Pracht der uns umgebenden Bergland-<lb/> ſchaft konnte ihn vom Zähneklappern abhalten. Wir waren<lb/> jetzt oberhalb <placeName>Trafoi</placeName>, von menſchlicher Hilfe weit entfernt.<lb/> Auf Seite des Weibleins verſtohlenes Weinen über das Leid<lb/> und die Gefahr des Gatten, denn ſie ſelbſt verſicherte, nichts<lb/> von Kälte zu ſpüren, nur „ein bischen“ kalte Füße. Meinen<lb/> Vorrath von ſchlechten Wärmeleitern hatte ich bereits im<lb/> eigenen Nutzen ziemlich erſchöpft, und von verfügbaren fanden<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [30/0044]
III. Zur Kleiderordnung — eine Lebensrettung.
Ziel nie kurz vor die Abreiſe geſteckt, ſondern ſtets ein Reſpect-
tag in die Rechnung aufgenommen. Geſagt, gethan. Hat
man auf einer kleineren Excurſion ſich nicht gehörig vor-
geſehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut ſich
plötzlich ein eiſiger Nordoſt auf, ſo wird das nächſte Bauern-
haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüſch oder ſonſtiges ge-
ſchütztes Plätzchen aufgeſucht, die Reiſetaſche geöffnet, das
Nachthemd unter das Oberhemd und was ſie ſonſt noch
etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taſchentuch über den
Baumwollſtrumpf geſchlagen u. dergl. m. Strenge Kleider-
ordnung iſt überhaupt nicht aufrecht zu halten, der Codex
turisticus geſtattet ſogar als Nothwehr ſchwere Gewaltthaten.
Einen Commentar zu dieſem Paragraphen mag folgendes
Geſchichtchen liefern.
Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour
über’s Stilfſer Joch ein junges Ehepaar, um den Comerſee
zu beſuchen. Wir waren zuſammen in Meran bei herrlichem
Wetter in den Wagen geſtiegen, je mehr wir uns aber dem
Paß näherten, je rauher wurde es. Das Geſpräch ſtockte,
die Geſichter erbleichten, die Naſen errötheten. Der Mann,
der am meiſten fror, war leicht gekleidet und hatte, obwohl
offenbar kränklich, wie ſich ſpäter ergab, im Rauſche des
Flitterwochenglücks, ſein ganzes Gepäck vorausgeſchickt, und
bei ſich außer ſeiner Liebe nur Kleinigkeiten, z. B. ein Thermo-
meterchen, das zwei Grad über Null nachwies, und eine
Taſchenausgabe von Seneca. Nicht einmal mit einem Plaid
war der Unbeſonnene verſehen! Weder die Philoſophie des
Hispaniers, noch die Pracht der uns umgebenden Bergland-
ſchaft konnte ihn vom Zähneklappern abhalten. Wir waren
jetzt oberhalb Trafoi, von menſchlicher Hilfe weit entfernt.
Auf Seite des Weibleins verſtohlenes Weinen über das Leid
und die Gefahr des Gatten, denn ſie ſelbſt verſicherte, nichts
von Kälte zu ſpüren, nur „ein bischen“ kalte Füße. Meinen
Vorrath von ſchlechten Wärmeleitern hatte ich bereits im
eigenen Nutzen ziemlich erſchöpft, und von verfügbaren fanden
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