Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.VIII. Keine Zeit haben -- Märtyrer der Berufspflicht -- Mußestunden. jene athemlose Alltagsarbeit, zu der sie anfangs weder Er-werbsucht noch Ehrgeiz spornte, eine zwingende Nothwendig- keit sei. Daß ihr Körper, ihr Geist, die Erziehung ihrer selbst und ihrer Kinder dabei verkommt, sehen sie hier und da ein, nichtsdestoweniger fahren sie fort, "keine Zeit" zu haben für irgend etwas außer ihrem Berufsgeschäft, und verknöchern so in ihrer Gewohnheit. Mit der Antwort "dafür habe ich keine Zeit" meinen sie jede weitere Erwiderung nieder- zuschlagen. Sieht man näher zu, so haben sie dennoch Zeit für eine Menge Lieblings-Allotrien. Sollte nicht das Goethe'sche Wort Viele Gewohnheiten darfst du haben, aber keine Gewohnheit. Dieses Wort unter des Dichters Gaben halte nicht für Thorheit! an Menschen der Art gerichtet sein und hieße in nüchterne Schopenhauer (Parerga) sagt: "In der Kindheit bringt VIII. Keine Zeit haben — Märtyrer der Berufspflicht — Mußeſtunden. jene athemloſe Alltagsarbeit, zu der ſie anfangs weder Er-werbſucht noch Ehrgeiz ſpornte, eine zwingende Nothwendig- keit ſei. Daß ihr Körper, ihr Geiſt, die Erziehung ihrer ſelbſt und ihrer Kinder dabei verkommt, ſehen ſie hier und da ein, nichtsdeſtoweniger fahren ſie fort, „keine Zeit“ zu haben für irgend etwas außer ihrem Berufsgeſchäft, und verknöchern ſo in ihrer Gewohnheit. Mit der Antwort „dafür habe ich keine Zeit“ meinen ſie jede weitere Erwiderung nieder- zuſchlagen. Sieht man näher zu, ſo haben ſie dennoch Zeit für eine Menge Lieblings-Allotrien. Sollte nicht das Goethe’ſche Wort Viele Gewohnheiten darfſt du haben, aber keine Gewohnheit. Dieſes Wort unter des Dichters Gaben halte nicht für Thorheit! an Menſchen der Art gerichtet ſein und hieße in nüchterne Schopenhauer (Parerga) ſagt: „In der Kindheit bringt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0266" n="252"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Keine Zeit haben — Märtyrer der Berufspflicht — Mußeſtunden.</fw><lb/> jene athemloſe Alltagsarbeit, zu der ſie anfangs weder Er-<lb/> werbſucht noch Ehrgeiz ſpornte, eine zwingende Nothwendig-<lb/> keit ſei. Daß ihr Körper, ihr Geiſt, die Erziehung ihrer<lb/> ſelbſt und ihrer Kinder dabei verkommt, ſehen ſie hier und da<lb/> ein, nichtsdeſtoweniger fahren ſie fort, „keine Zeit“ zu haben<lb/> für irgend etwas außer ihrem Berufsgeſchäft, und verknöchern<lb/> ſo in ihrer Gewohnheit. Mit der Antwort „dafür habe ich<lb/> keine Zeit“ meinen ſie jede weitere Erwiderung nieder-<lb/> zuſchlagen. Sieht man näher zu, ſo haben ſie dennoch Zeit<lb/> für eine Menge Lieblings-Allotrien. Sollte nicht das<lb/> Goethe’ſche Wort</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Viele Gewohnheiten darfſt du haben, aber keine Gewohnheit.</l><lb/> <l>Dieſes Wort unter des Dichters Gaben halte nicht für Thorheit!</l> </lg><lb/> <p>an Menſchen der Art gerichtet ſein und hieße in nüchterne<lb/> Proſa überſetzt: Du darfſt allenfalls ein Gewohnheitsmenſch<lb/> ſein, aber kein Gewohnheitsthier, ein Weſen, das in Einer<lb/> Gewohnheit völlig aufgeht? — Von ihrer Umgebung ver-<lb/> langen ſolche Geſchäftsphiliſter natürlich als Märtyrer der<lb/> Berufspflicht bewundert zu werden, namentlich ſollen ihre<lb/> Frau und ihre Freunde alle daraus entſpringenden Uebel<lb/> als unabwendbare Naturereigniſſe betrachten. Mancher von<lb/> ihnen würde vielleicht das Gleichgewicht ſeiner Seele wieder-<lb/> finden, wenn er ſich rechtzeitig hier und da eine Reiſe gönnte<lb/> und auf dieſer Uebungen machte in der Benutzung der<lb/> Mußeſtunden.</p><lb/> <p><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118610465">Schopenhauer</persName> (Parerga) ſagt: „In der Kindheit bringt<lb/> die Neuheit aller Gegenſtände und Begebenheiten Jegliches<lb/> zum Bewußtſein: daher iſt der Tag unabſehbar lang. Das-<lb/> ſelbe widerfährt uns auf Reiſen, wo deshalb ein Monat<lb/> länger erſcheint, als vier zu Hauſe. Dieſe Neuheit der Dinge<lb/> verhindert jedoch nicht, daß die in beiden Fällen länger<lb/> ſcheinende Zeit uns auch in beiden oft wirklich <hi rendition="#g">lang wird</hi>,<lb/> mehr als im Alter und mehr als zu Hauſe.“ — Ich glaube,<lb/> daß eine Zeit, in der unſere Empfänglichkeit noch friſch iſt<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [252/0266]
VIII. Keine Zeit haben — Märtyrer der Berufspflicht — Mußeſtunden.
jene athemloſe Alltagsarbeit, zu der ſie anfangs weder Er-
werbſucht noch Ehrgeiz ſpornte, eine zwingende Nothwendig-
keit ſei. Daß ihr Körper, ihr Geiſt, die Erziehung ihrer
ſelbſt und ihrer Kinder dabei verkommt, ſehen ſie hier und da
ein, nichtsdeſtoweniger fahren ſie fort, „keine Zeit“ zu haben
für irgend etwas außer ihrem Berufsgeſchäft, und verknöchern
ſo in ihrer Gewohnheit. Mit der Antwort „dafür habe ich
keine Zeit“ meinen ſie jede weitere Erwiderung nieder-
zuſchlagen. Sieht man näher zu, ſo haben ſie dennoch Zeit
für eine Menge Lieblings-Allotrien. Sollte nicht das
Goethe’ſche Wort
Viele Gewohnheiten darfſt du haben, aber keine Gewohnheit.
Dieſes Wort unter des Dichters Gaben halte nicht für Thorheit!
an Menſchen der Art gerichtet ſein und hieße in nüchterne
Proſa überſetzt: Du darfſt allenfalls ein Gewohnheitsmenſch
ſein, aber kein Gewohnheitsthier, ein Weſen, das in Einer
Gewohnheit völlig aufgeht? — Von ihrer Umgebung ver-
langen ſolche Geſchäftsphiliſter natürlich als Märtyrer der
Berufspflicht bewundert zu werden, namentlich ſollen ihre
Frau und ihre Freunde alle daraus entſpringenden Uebel
als unabwendbare Naturereigniſſe betrachten. Mancher von
ihnen würde vielleicht das Gleichgewicht ſeiner Seele wieder-
finden, wenn er ſich rechtzeitig hier und da eine Reiſe gönnte
und auf dieſer Uebungen machte in der Benutzung der
Mußeſtunden.
Schopenhauer (Parerga) ſagt: „In der Kindheit bringt
die Neuheit aller Gegenſtände und Begebenheiten Jegliches
zum Bewußtſein: daher iſt der Tag unabſehbar lang. Das-
ſelbe widerfährt uns auf Reiſen, wo deshalb ein Monat
länger erſcheint, als vier zu Hauſe. Dieſe Neuheit der Dinge
verhindert jedoch nicht, daß die in beiden Fällen länger
ſcheinende Zeit uns auch in beiden oft wirklich lang wird,
mehr als im Alter und mehr als zu Hauſe.“ — Ich glaube,
daß eine Zeit, in der unſere Empfänglichkeit noch friſch iſt
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |