schaft, wenn man ihr Zeit zum Wachsthum gelassen und sie nicht künstlich getrieben hätte, ein kräftiger, tiefgewurzelter Baum geworden wäre. Auch der Genuß der Freundschaft und des geistigen Verkehrs, wie jeder andere, muß in Schranken gehalten werden, wenn er dauern soll.
Einen anderen Mißgriff begehen junge Leute, die mit einem Manne, an dessen guter Meinung ihnen besonders ge- legen ist, in Berührung kommen, dadurch, daß sie sich nicht zuerst begnügen, bescheiden und sinnig zu antworten, sondern nach Gesprächsstoffen in höheren Gebieten, Politik, Kunst, Literatur haschen, springen und klettern, während sie auf ihrem Turnplatze schon hätten bemerken können, daß beim Springen und Klettern leicht unsre unvortheilhaftesten Seiten zum Vorschein kommen. Im täglichen Leben sowohl wie aus den Biographien bedeutender Männer habe ich denn auch stets gesehen, daß diese mit einem Menschen, welchen der Zu- fall in ihre Nähe führte, sofern sie sich überhaupt in ein Ge- spräch einließen, zu dessen Gegenstand immer Naheliegendes, Gewöhnliches machten und erst, wenn er hierin kundgab, daß er nicht unter die gewöhnlichen Köpfe zähle, Lust hatten, näher an ihn heran und mit ihm höher hinauf zu schreiten. Nicht der Gegenstand der Unterhaltung, sondern dessen Behandlung ist es, die sie anziehend oder fade macht. In der Wahl des- selben bewähren manche Frauen einen Takt, von dem die meisten Männer lernen könnten. Namentlich verstehen sie, Gebiete leise zu streifen, um zu ermitteln, ob der Andere ge- neigt ist, darauf einzugehen. Im Allgemeinen gilt die Regel, daß von einem Manne, je höher seine bürgerliche und geistige Stufe ist, um so weniger erwartet werden darf, daß er Nei- gung habe, auf seine Berufsgegenstände einzugehen, daß wir hingegen am ehesten hoffen dürfen, sein Interesse zu erregen, wenn wir über Dinge sprechen, die wir in unsrer Stellung besser als er kennen müssen. Dabei kommt es aber darauf an, den Faden des Gesprächs nicht zu emsig und lang zu spinnen, so daß, ihn fallen zu lassen oder neue Anknüpfungen
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VII. Neugefundene Freunde — Geſprächsſtoffe.
ſchaft, wenn man ihr Zeit zum Wachsthum gelaſſen und ſie nicht künſtlich getrieben hätte, ein kräftiger, tiefgewurzelter Baum geworden wäre. Auch der Genuß der Freundſchaft und des geiſtigen Verkehrs, wie jeder andere, muß in Schranken gehalten werden, wenn er dauern ſoll.
Einen anderen Mißgriff begehen junge Leute, die mit einem Manne, an deſſen guter Meinung ihnen beſonders ge- legen iſt, in Berührung kommen, dadurch, daß ſie ſich nicht zuerſt begnügen, beſcheiden und ſinnig zu antworten, ſondern nach Geſprächsſtoffen in höheren Gebieten, Politik, Kunſt, Literatur haſchen, ſpringen und klettern, während ſie auf ihrem Turnplatze ſchon hätten bemerken können, daß beim Springen und Klettern leicht unſre unvortheilhafteſten Seiten zum Vorſchein kommen. Im täglichen Leben ſowohl wie aus den Biographien bedeutender Männer habe ich denn auch ſtets geſehen, daß dieſe mit einem Menſchen, welchen der Zu- fall in ihre Nähe führte, ſofern ſie ſich überhaupt in ein Ge- ſpräch einließen, zu deſſen Gegenſtand immer Naheliegendes, Gewöhnliches machten und erſt, wenn er hierin kundgab, daß er nicht unter die gewöhnlichen Köpfe zähle, Luſt hatten, näher an ihn heran und mit ihm höher hinauf zu ſchreiten. Nicht der Gegenſtand der Unterhaltung, ſondern deſſen Behandlung iſt es, die ſie anziehend oder fade macht. In der Wahl des- ſelben bewähren manche Frauen einen Takt, von dem die meiſten Männer lernen könnten. Namentlich verſtehen ſie, Gebiete leiſe zu ſtreifen, um zu ermitteln, ob der Andere ge- neigt iſt, darauf einzugehen. Im Allgemeinen gilt die Regel, daß von einem Manne, je höher ſeine bürgerliche und geiſtige Stufe iſt, um ſo weniger erwartet werden darf, daß er Nei- gung habe, auf ſeine Berufsgegenſtände einzugehen, daß wir hingegen am eheſten hoffen dürfen, ſein Intereſſe zu erregen, wenn wir über Dinge ſprechen, die wir in unſrer Stellung beſſer als er kennen müſſen. Dabei kommt es aber darauf an, den Faden des Geſprächs nicht zu emſig und lang zu ſpinnen, ſo daß, ihn fallen zu laſſen oder neue Anknüpfungen
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VII. Neugefundene Freunde — Geſprächsſtoffe.
ſchaft, wenn man ihr Zeit zum Wachsthum gelaſſen und ſie
nicht künſtlich getrieben hätte, ein kräftiger, tiefgewurzelter
Baum geworden wäre. Auch der Genuß der Freundſchaft
und des geiſtigen Verkehrs, wie jeder andere, muß in
Schranken gehalten werden, wenn er dauern ſoll.
Einen anderen Mißgriff begehen junge Leute, die mit
einem Manne, an deſſen guter Meinung ihnen beſonders ge-
legen iſt, in Berührung kommen, dadurch, daß ſie ſich nicht
zuerſt begnügen, beſcheiden und ſinnig zu antworten, ſondern
nach Geſprächsſtoffen in höheren Gebieten, Politik, Kunſt,
Literatur haſchen, ſpringen und klettern, während ſie auf
ihrem Turnplatze ſchon hätten bemerken können, daß beim
Springen und Klettern leicht unſre unvortheilhafteſten Seiten
zum Vorſchein kommen. Im täglichen Leben ſowohl wie aus
den Biographien bedeutender Männer habe ich denn auch
ſtets geſehen, daß dieſe mit einem Menſchen, welchen der Zu-
fall in ihre Nähe führte, ſofern ſie ſich überhaupt in ein Ge-
ſpräch einließen, zu deſſen Gegenſtand immer Naheliegendes,
Gewöhnliches machten und erſt, wenn er hierin kundgab, daß
er nicht unter die gewöhnlichen Köpfe zähle, Luſt hatten, näher
an ihn heran und mit ihm höher hinauf zu ſchreiten. Nicht
der Gegenſtand der Unterhaltung, ſondern deſſen Behandlung
iſt es, die ſie anziehend oder fade macht. In der Wahl des-
ſelben bewähren manche Frauen einen Takt, von dem die
meiſten Männer lernen könnten. Namentlich verſtehen ſie,
Gebiete leiſe zu ſtreifen, um zu ermitteln, ob der Andere ge-
neigt iſt, darauf einzugehen. Im Allgemeinen gilt die Regel,
daß von einem Manne, je höher ſeine bürgerliche und geiſtige
Stufe iſt, um ſo weniger erwartet werden darf, daß er Nei-
gung habe, auf ſeine Berufsgegenſtände einzugehen, daß wir
hingegen am eheſten hoffen dürfen, ſein Intereſſe zu erregen,
wenn wir über Dinge ſprechen, die wir in unſrer Stellung
beſſer als er kennen müſſen. Dabei kommt es aber darauf
an, den Faden des Geſprächs nicht zu emſig und lang zu
ſpinnen, ſo daß, ihn fallen zu laſſen oder neue Anknüpfungen
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/239>, abgerufen am 21.07.2024.
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