Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Moralische Erzählungen -- Griesgrame, Sonderlinge, Hypochonder.
Kehrt gemacht und blickten nach ihr, so oft sie sich zeigte, den
ältesten Traditionen dieses Orts zufolge ein unerhörter Fall,
und der Brunnen schien höher als gewöhnlich zu springen.

In einem andren Badeorte traf ich ein, als er bereits
überfüllt, und meine erste Bekanntschaft war ein dem eben
geschilderten ähnlicher Griesgram, ein Mann von aus-
gebildet hämorrhoidaler Weltanschauung, mit dem die anderen
Gäste augenscheinlich nichts zu thun haben mochten, der
jedoch, wie es oft mit solchen Sonderlingen der Fall ist, einige
sehr schätzbare, solide Eigenschaften besaß, die erst nach und
nach zum Vorschein kamen. Abgesehen davon, daß er Weg
und Steg in der Umgegend kannte, erwies er sich, nachdem
ich ein paar Becher seiner üblen Laune zwischen den Mineral-
brunnen hinein mit guter Miene verschluckt, als ein Mann
von feinem Gefühle, reicher Lebenserfahrung und namentlich
großer Originalität des Gedankens. Man sah überall, auch
wo man ihm nicht zustimmen konnte, daß er seine Urtheile
sich selbst bildete und sie nicht als fertige Waare aus Fabriken
bezog. Dieser Eigenschaft, auf welcher die Anregungs-
fähigkeit beruht, ermangeln die Proletarier des Geistes, die
nur ihre Quote am Nationalvermögen, aber kein Privat-
eigenthum besitzen. Geister der Art hat man mit kleinen
Staaten verglichen, deren Geldumlauf aus lauter fremden
Münzen besteht, weil sie nicht selbst prägen.

Nach den berichteten und anderen ähnlichen Erlebnissen
pflege ich denn neue Bekannte, wenn sie mir auch anfangs
etwas unergiebig vorkommen, nicht so sehr eilig abzuschütteln.
Namentlich mag hier zu Gunsten der "Hypochonder", jener
in Badeorten und auf Reisen so zahlreich vertretenen Classe
(nicht alle gehören sie zu den Schwächlingen, die sich nur
mit ihrem trübseligen kleinen Ich beschäftigen) ein Wort
eingelegt sein. Zu Hause haben die Bejammernswerthen
entweder gar keine oder allzu viele, zu ängstliche, peinliche
Rücksicht erfahren, im Bade werden sie von den andern An-
wesenden theils bespöttelt und geneckt, theils gemieden, finden

VII. Moraliſche Erzählungen — Griesgrame, Sonderlinge, Hypochonder.
Kehrt gemacht und blickten nach ihr, ſo oft ſie ſich zeigte, den
älteſten Traditionen dieſes Orts zufolge ein unerhörter Fall,
und der Brunnen ſchien höher als gewöhnlich zu ſpringen.

In einem andren Badeorte traf ich ein, als er bereits
überfüllt, und meine erſte Bekanntſchaft war ein dem eben
geſchilderten ähnlicher Griesgram, ein Mann von aus-
gebildet hämorrhoidaler Weltanſchauung, mit dem die anderen
Gäſte augenſcheinlich nichts zu thun haben mochten, der
jedoch, wie es oft mit ſolchen Sonderlingen der Fall iſt, einige
ſehr ſchätzbare, ſolide Eigenſchaften beſaß, die erſt nach und
nach zum Vorſchein kamen. Abgeſehen davon, daß er Weg
und Steg in der Umgegend kannte, erwies er ſich, nachdem
ich ein paar Becher ſeiner üblen Laune zwiſchen den Mineral-
brunnen hinein mit guter Miene verſchluckt, als ein Mann
von feinem Gefühle, reicher Lebenserfahrung und namentlich
großer Originalität des Gedankens. Man ſah überall, auch
wo man ihm nicht zuſtimmen konnte, daß er ſeine Urtheile
ſich ſelbſt bildete und ſie nicht als fertige Waare aus Fabriken
bezog. Dieſer Eigenſchaft, auf welcher die Anregungs-
fähigkeit beruht, ermangeln die Proletarier des Geiſtes, die
nur ihre Quote am Nationalvermögen, aber kein Privat-
eigenthum beſitzen. Geiſter der Art hat man mit kleinen
Staaten verglichen, deren Geldumlauf aus lauter fremden
Münzen beſteht, weil ſie nicht ſelbſt prägen.

Nach den berichteten und anderen ähnlichen Erlebniſſen
pflege ich denn neue Bekannte, wenn ſie mir auch anfangs
etwas unergiebig vorkommen, nicht ſo ſehr eilig abzuſchütteln.
Namentlich mag hier zu Gunſten der „Hypochonder“, jener
in Badeorten und auf Reiſen ſo zahlreich vertretenen Claſſe
(nicht alle gehören ſie zu den Schwächlingen, die ſich nur
mit ihrem trübſeligen kleinen Ich beſchäftigen) ein Wort
eingelegt ſein. Zu Hauſe haben die Bejammernswerthen
entweder gar keine oder allzu viele, zu ängſtliche, peinliche
Rückſicht erfahren, im Bade werden ſie von den andern An-
weſenden theils beſpöttelt und geneckt, theils gemieden, finden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0237" n="223"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Morali&#x017F;che Erzählungen &#x2014; Griesgrame, Sonderlinge, Hypochonder.</fw><lb/>
Kehrt gemacht und blickten nach ihr, &#x017F;o oft &#x017F;ie &#x017F;ich zeigte, den<lb/>
älte&#x017F;ten Traditionen die&#x017F;es Orts zufolge ein unerhörter Fall,<lb/>
und der Brunnen &#x017F;chien höher als gewöhnlich zu &#x017F;pringen.</p><lb/>
        <p>In einem andren Badeorte traf ich ein, als er bereits<lb/>
überfüllt, und meine er&#x017F;te Bekannt&#x017F;chaft war ein dem eben<lb/>
ge&#x017F;childerten ähnlicher Griesgram, ein Mann von aus-<lb/>
gebildet hämorrhoidaler Weltan&#x017F;chauung, mit dem die anderen<lb/>&#x017F;te augen&#x017F;cheinlich nichts zu thun haben mochten, der<lb/>
jedoch, wie es oft mit &#x017F;olchen Sonderlingen der Fall i&#x017F;t, einige<lb/>
&#x017F;ehr &#x017F;chätzbare, &#x017F;olide Eigen&#x017F;chaften be&#x017F;aß, die er&#x017F;t nach und<lb/>
nach zum Vor&#x017F;chein kamen. Abge&#x017F;ehen davon, daß er Weg<lb/>
und Steg in der Umgegend kannte, erwies er &#x017F;ich, nachdem<lb/>
ich ein paar Becher &#x017F;einer üblen Laune zwi&#x017F;chen den Mineral-<lb/>
brunnen hinein mit guter Miene ver&#x017F;chluckt, als ein Mann<lb/>
von feinem Gefühle, reicher Lebenserfahrung und namentlich<lb/>
großer Originalität des Gedankens. Man &#x017F;ah überall, auch<lb/>
wo man ihm nicht zu&#x017F;timmen konnte, daß er &#x017F;eine Urtheile<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t bildete und &#x017F;ie nicht als fertige Waare aus Fabriken<lb/>
bezog. Die&#x017F;er Eigen&#x017F;chaft, auf welcher die Anregungs-<lb/>
fähigkeit beruht, ermangeln die Proletarier des Gei&#x017F;tes, die<lb/>
nur ihre Quote am Nationalvermögen, aber kein Privat-<lb/>
eigenthum be&#x017F;itzen. Gei&#x017F;ter der Art hat man mit kleinen<lb/>
Staaten verglichen, deren Geldumlauf aus lauter fremden<lb/>
Münzen be&#x017F;teht, weil &#x017F;ie nicht &#x017F;elb&#x017F;t prägen.</p><lb/>
        <p>Nach den berichteten und anderen ähnlichen Erlebni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
pflege ich denn neue Bekannte, wenn &#x017F;ie mir auch anfangs<lb/>
etwas unergiebig vorkommen, nicht &#x017F;o &#x017F;ehr eilig abzu&#x017F;chütteln.<lb/>
Namentlich mag hier zu Gun&#x017F;ten der &#x201E;Hypochonder&#x201C;, jener<lb/>
in Badeorten und auf Rei&#x017F;en &#x017F;o zahlreich vertretenen Cla&#x017F;&#x017F;e<lb/>
(nicht alle gehören &#x017F;ie zu den Schwächlingen, die &#x017F;ich nur<lb/>
mit ihrem trüb&#x017F;eligen kleinen Ich be&#x017F;chäftigen) ein Wort<lb/>
eingelegt &#x017F;ein. Zu Hau&#x017F;e haben die Bejammernswerthen<lb/>
entweder gar keine oder allzu viele, zu äng&#x017F;tliche, peinliche<lb/>
Rück&#x017F;icht erfahren, im Bade werden &#x017F;ie von den andern An-<lb/>
we&#x017F;enden theils be&#x017F;pöttelt und geneckt, theils gemieden, finden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0237] VII. Moraliſche Erzählungen — Griesgrame, Sonderlinge, Hypochonder. Kehrt gemacht und blickten nach ihr, ſo oft ſie ſich zeigte, den älteſten Traditionen dieſes Orts zufolge ein unerhörter Fall, und der Brunnen ſchien höher als gewöhnlich zu ſpringen. In einem andren Badeorte traf ich ein, als er bereits überfüllt, und meine erſte Bekanntſchaft war ein dem eben geſchilderten ähnlicher Griesgram, ein Mann von aus- gebildet hämorrhoidaler Weltanſchauung, mit dem die anderen Gäſte augenſcheinlich nichts zu thun haben mochten, der jedoch, wie es oft mit ſolchen Sonderlingen der Fall iſt, einige ſehr ſchätzbare, ſolide Eigenſchaften beſaß, die erſt nach und nach zum Vorſchein kamen. Abgeſehen davon, daß er Weg und Steg in der Umgegend kannte, erwies er ſich, nachdem ich ein paar Becher ſeiner üblen Laune zwiſchen den Mineral- brunnen hinein mit guter Miene verſchluckt, als ein Mann von feinem Gefühle, reicher Lebenserfahrung und namentlich großer Originalität des Gedankens. Man ſah überall, auch wo man ihm nicht zuſtimmen konnte, daß er ſeine Urtheile ſich ſelbſt bildete und ſie nicht als fertige Waare aus Fabriken bezog. Dieſer Eigenſchaft, auf welcher die Anregungs- fähigkeit beruht, ermangeln die Proletarier des Geiſtes, die nur ihre Quote am Nationalvermögen, aber kein Privat- eigenthum beſitzen. Geiſter der Art hat man mit kleinen Staaten verglichen, deren Geldumlauf aus lauter fremden Münzen beſteht, weil ſie nicht ſelbſt prägen. Nach den berichteten und anderen ähnlichen Erlebniſſen pflege ich denn neue Bekannte, wenn ſie mir auch anfangs etwas unergiebig vorkommen, nicht ſo ſehr eilig abzuſchütteln. Namentlich mag hier zu Gunſten der „Hypochonder“, jener in Badeorten und auf Reiſen ſo zahlreich vertretenen Claſſe (nicht alle gehören ſie zu den Schwächlingen, die ſich nur mit ihrem trübſeligen kleinen Ich beſchäftigen) ein Wort eingelegt ſein. Zu Hauſe haben die Bejammernswerthen entweder gar keine oder allzu viele, zu ängſtliche, peinliche Rückſicht erfahren, im Bade werden ſie von den andern An- weſenden theils beſpöttelt und geneckt, theils gemieden, finden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/237
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/237>, abgerufen am 28.11.2024.