Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <cit corresp="#bib1" xml:id="bib2"> <quote><pb facs="#f0226" n="212"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Franzöſiſche Touriſten. Engl. Reiſewerke. Kunſt d. Reiſebeſchreibung.</fw><lb/> unbekannter Geſichter, der Zwang der fremden Sitten und Gebräuche ſind für ihn<lb/> zu harte Prüfungen … Jene zu weitgetriebene Geſelligkeitsliebe iſt vielleicht der<lb/> Grund, daß der Franzoſe die Welt faſt nur in der Eigenſchaft als Soldat durch-<lb/> zogen … Den erſten Tag in der Fremde ſtößt ihn Alles ab und ärgert ihn, bald<lb/> jedoch iſt er überwunden und gewonnen … Niemanden widerſtrebt es mehr, ſeine<lb/> Perſönlichkeit abzuthun und Niemand vollbringt es leichter: üble Eigenſchaften um<lb/> die beſuchten Länder richtig zu ſehen und Geheimniſſe fremder Völker zu erforſchen.<lb/> Dies zu können, ſoll man ſich gleich weit von Verachtung und redſeliger Vertraulich-<lb/> keit angeſichts der Dinge halten, ohne allzuhingebend ſich in ſie einzumiſchen …<lb/> Die franzöſiſchen Reiſewerke ſind vor Allem maleriſch, die Oberfläche beſchreibend,<lb/> erſtreben weniger, gut zu ſehen, als gut zu erzählen; trachten, unterhaltend, farben-<lb/> reich, pikant zu ſein, aber nicht die Reiſe iſt ihnen Hauptſache, ſondern ihr Bericht.<lb/> Ganz anders iſt es mit der engliſchen. Künſtleriſche Gebilde ſind ſie faſt nie,<lb/> wimmeln von Ungeſchicklichkeiten des Ausdrucks, aber ein unſchätzbares Verdienſt<lb/> haben ſie: das der Wahrheit. Da dieſe Reiſenden keine Künſtler ſind, ſo ſuchen ſie<lb/> weit lieber nach dem, was menſchlich als was maleriſch iſt, entſchädigen durch das<lb/> lebhafte Gefühl der Wirklichkeit, das ihrem Volke eigen, für den literariſchen Zauber,<lb/> der ihnen gebricht. Sie ſind mehr mit der moraliſchen Perſönlichkeit beſchäftigt,<lb/> als mit der materiellen, und ſind ihre Beſchreibungen von Landſchaften häufig ver-<lb/> wirrt und linkiſch, ſo verſtehen ſie dafür, uns den ſittlichen Bau eines Brahmanen<lb/> zu veranſchaulichen und den Gedankengang eines Wilden zu zeigen. Zwiſchen der<lb/> aller Hilfsmittel der Kunſt entkleideten Wahrheit und einer Kunſt, die ſich mit der<lb/> oberflächlichſten Wahrheit begnügt, iſt die Wahl nicht ſchwer … Ein Verein von<lb/> Beidem wäre freilich auch in dem Gebiete die Vollkommenheit ſelbſt, er iſt aber nur<lb/> ſehr wenig Erleſenen verliehen. Das Ideal eines Reiſeſchilderers muß erſtens<lb/> umfaſſenden Geiſt haben, aber nicht ſo ſehr, um allzuleicht über die Beſonderheiten<lb/> hinwegzukommen und ſie zu generaliſiren; zweitens ernſthaft ſein, doch nicht zu<lb/> ſeh<supplied>r</supplied>, damit der Ernſt nicht ſeiner Unterhaltungsgabe ſchade. Iſt er phantaſiereich,<lb/> deſto beſſer, ſo wird er um ſo fähiger ſein, die Schönheit zu begreifen; ſein Träumen<lb/> muß aber verſtehen, zur rechten Zeit zu kommen und zu gehen, nicht ſeine Geiſtes-<lb/> freiheit beeinträchtigen, noch ſeine Wißbegierde lähmen. Etwas Skepſis iſt will-<lb/> kommen in dieſem bunten Strauße von Geiſtesblumen, denn ſie wird das allzu-<lb/> bereitwillige Vertrauen der Bewunderung zügeln, und Abſchweifungen zuvorkommen,<lb/> zu denen ſich die Einbildungskraft etwa hinreißen läßt, gefährlich wäre es jedoch,<lb/> nähme dieſe Zweifelſucht überhand, denn ſie würde leicht zu planmäßiger Anſchwär-<lb/> zung und ſyſtematiſcher Verneinung. Vor Allem muß dieſer Reiſende lebendiges<lb/> Gefühl haben, damit er die den verſchiedenſten Dingen innewohnende Seele<lb/> empfinden, belauſchen könne, ſich aber ſorgſam hüten, in Dilettantismus zu fallen,<lb/> dieſen ſchlimmſten aller Fehler des Reiſenden; er muß ferner womöglich kein<lb/> Berufsgeſchäft haben, dazu die liberalſte Geiſtesbildung, um nicht excluſiv in ſeinen<lb/> Bemerkungen zu werden; endlich muß er ſeine Individualität bewahren und darf<lb/> bei aller Sympathie für das Volk, in deſſen Mitte er weilt, wohl ſeine Gebräuche<lb/> und Sitten zeitweilig mitmachen, ſie aber ſich nicht völlig aneignen. Man ſieht,<lb/> daß unſer Ideal eines Reiſenden, wenn auch keine ſonderlich ſeltenen einzelnen<lb/></quote> </cit> </div> </body> </text> </TEI> [212/0226]
VII. Franzöſiſche Touriſten. Engl. Reiſewerke. Kunſt d. Reiſebeſchreibung.
unbekannter Geſichter, der Zwang der fremden Sitten und Gebräuche ſind für ihn
zu harte Prüfungen … Jene zu weitgetriebene Geſelligkeitsliebe iſt vielleicht der
Grund, daß der Franzoſe die Welt faſt nur in der Eigenſchaft als Soldat durch-
zogen … Den erſten Tag in der Fremde ſtößt ihn Alles ab und ärgert ihn, bald
jedoch iſt er überwunden und gewonnen … Niemanden widerſtrebt es mehr, ſeine
Perſönlichkeit abzuthun und Niemand vollbringt es leichter: üble Eigenſchaften um
die beſuchten Länder richtig zu ſehen und Geheimniſſe fremder Völker zu erforſchen.
Dies zu können, ſoll man ſich gleich weit von Verachtung und redſeliger Vertraulich-
keit angeſichts der Dinge halten, ohne allzuhingebend ſich in ſie einzumiſchen …
Die franzöſiſchen Reiſewerke ſind vor Allem maleriſch, die Oberfläche beſchreibend,
erſtreben weniger, gut zu ſehen, als gut zu erzählen; trachten, unterhaltend, farben-
reich, pikant zu ſein, aber nicht die Reiſe iſt ihnen Hauptſache, ſondern ihr Bericht.
Ganz anders iſt es mit der engliſchen. Künſtleriſche Gebilde ſind ſie faſt nie,
wimmeln von Ungeſchicklichkeiten des Ausdrucks, aber ein unſchätzbares Verdienſt
haben ſie: das der Wahrheit. Da dieſe Reiſenden keine Künſtler ſind, ſo ſuchen ſie
weit lieber nach dem, was menſchlich als was maleriſch iſt, entſchädigen durch das
lebhafte Gefühl der Wirklichkeit, das ihrem Volke eigen, für den literariſchen Zauber,
der ihnen gebricht. Sie ſind mehr mit der moraliſchen Perſönlichkeit beſchäftigt,
als mit der materiellen, und ſind ihre Beſchreibungen von Landſchaften häufig ver-
wirrt und linkiſch, ſo verſtehen ſie dafür, uns den ſittlichen Bau eines Brahmanen
zu veranſchaulichen und den Gedankengang eines Wilden zu zeigen. Zwiſchen der
aller Hilfsmittel der Kunſt entkleideten Wahrheit und einer Kunſt, die ſich mit der
oberflächlichſten Wahrheit begnügt, iſt die Wahl nicht ſchwer … Ein Verein von
Beidem wäre freilich auch in dem Gebiete die Vollkommenheit ſelbſt, er iſt aber nur
ſehr wenig Erleſenen verliehen. Das Ideal eines Reiſeſchilderers muß erſtens
umfaſſenden Geiſt haben, aber nicht ſo ſehr, um allzuleicht über die Beſonderheiten
hinwegzukommen und ſie zu generaliſiren; zweitens ernſthaft ſein, doch nicht zu
ſehr, damit der Ernſt nicht ſeiner Unterhaltungsgabe ſchade. Iſt er phantaſiereich,
deſto beſſer, ſo wird er um ſo fähiger ſein, die Schönheit zu begreifen; ſein Träumen
muß aber verſtehen, zur rechten Zeit zu kommen und zu gehen, nicht ſeine Geiſtes-
freiheit beeinträchtigen, noch ſeine Wißbegierde lähmen. Etwas Skepſis iſt will-
kommen in dieſem bunten Strauße von Geiſtesblumen, denn ſie wird das allzu-
bereitwillige Vertrauen der Bewunderung zügeln, und Abſchweifungen zuvorkommen,
zu denen ſich die Einbildungskraft etwa hinreißen läßt, gefährlich wäre es jedoch,
nähme dieſe Zweifelſucht überhand, denn ſie würde leicht zu planmäßiger Anſchwär-
zung und ſyſtematiſcher Verneinung. Vor Allem muß dieſer Reiſende lebendiges
Gefühl haben, damit er die den verſchiedenſten Dingen innewohnende Seele
empfinden, belauſchen könne, ſich aber ſorgſam hüten, in Dilettantismus zu fallen,
dieſen ſchlimmſten aller Fehler des Reiſenden; er muß ferner womöglich kein
Berufsgeſchäft haben, dazu die liberalſte Geiſtesbildung, um nicht excluſiv in ſeinen
Bemerkungen zu werden; endlich muß er ſeine Individualität bewahren und darf
bei aller Sympathie für das Volk, in deſſen Mitte er weilt, wohl ſeine Gebräuche
und Sitten zeitweilig mitmachen, ſie aber ſich nicht völlig aneignen. Man ſieht,
daß unſer Ideal eines Reiſenden, wenn auch keine ſonderlich ſeltenen einzelnen
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