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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VII. Süd- und Norddeutsche -- Norden und Süden.
Lebens nicht sowohl durch Schädigung oder Bedrohung wirk-
licher Interessen hervorgerufen, als vielmehr: -- durch ver-
letztes Selbstgefühl. Wurden oder glauben wir unsre "mate-
riellen Interessen" angetastet, so sind wir minder geneigt,
viel Worte zu machen, greifen auch nicht so leicht fehl in der
Wahl der Mittel, dagegen lassen wir uns zu Bitterkeiten,
Uebertreibungen und Ungerechtigkeiten vorzüglich dann hin-
reißen, wenn unsre Eigenliebe sich gekränkt fühlt. Tiefer
einzugehen auf politische Controversen, ist hier nicht der Ort,
nur die Bemerkung kann ich nicht unterdrücken, daß der
Continentale, angenommen, die Engländer wären in der
That durchweg hochfahrend, ungesellig, gemüthlos, offenbar
sehr Recht hätte, ihre Gesellschaft zu meiden, daß hingegen,
gesetzt auch, die Wirklichkeit entspräche dem Bilde, welches
gewisse Zeitungen von den Preußen sechs Mal wöchentlich
zeichnen, angenommen, die letzteren wären sämmtlich "kalte
Verstandesmenschen" etc. und das "deutsche Gemüth" nur im
Süden zu finden, die aufrichtigen Preußenfeinde sich doch ein-
mal ernstlich fragen sollten, ob nicht dieses Bild, das mit der
Politik so wenig zu schaffen hat, ihnen den Blick für ihre
"materiellen und immateriellen Interessen" mehr als sie sich
selbst eingestehen, getrübt hat.

Der Nordländer ist von Natur zurückhaltender, kühler,
ernster, arbeitsamer, der Südländer leicht- und warmblütiger,
geselliger, anschlüssiger, heiterer, gesprächslustiger, unter-
haltungsbedürftiger, vergnüglicher. Für allen menschlichen
Verkehr sind Zugeständnisse an Individuelles -- auch Volks-
stämme sind in dem Sinne Individuen -- die nothwendige
Grundlage, und werden uns um so leichter, je mehr wir
einsehen, daß Vorzüge sowohl wie Schwächen stets ihre Licht-
und ihre Kehrseite haben. Auf alle Fälle ist es für unser
persönliches und nationales Ehrgefühl keine Verletzung, wenn
der andere Theil seinem Volksgebrauche folgt und uns
gegenüber sich so passiv verhält, wie er es gegen jeden, ihm
unbekannten Landsmann gethan hätte; ebensowenig gibt es

VII. Süd- und Norddeutſche — Norden und Süden.
Lebens nicht ſowohl durch Schädigung oder Bedrohung wirk-
licher Intereſſen hervorgerufen, als vielmehr: — durch ver-
letztes Selbſtgefühl. Wurden oder glauben wir unſre „mate-
riellen Intereſſen“ angetaſtet, ſo ſind wir minder geneigt,
viel Worte zu machen, greifen auch nicht ſo leicht fehl in der
Wahl der Mittel, dagegen laſſen wir uns zu Bitterkeiten,
Uebertreibungen und Ungerechtigkeiten vorzüglich dann hin-
reißen, wenn unſre Eigenliebe ſich gekränkt fühlt. Tiefer
einzugehen auf politiſche Controverſen, iſt hier nicht der Ort,
nur die Bemerkung kann ich nicht unterdrücken, daß der
Continentale, angenommen, die Engländer wären in der
That durchweg hochfahrend, ungeſellig, gemüthlos, offenbar
ſehr Recht hätte, ihre Geſellſchaft zu meiden, daß hingegen,
geſetzt auch, die Wirklichkeit entſpräche dem Bilde, welches
gewiſſe Zeitungen von den Preußen ſechs Mal wöchentlich
zeichnen, angenommen, die letzteren wären ſämmtlich „kalte
Verſtandesmenſchen“ ꝛc. und das „deutſche Gemüth“ nur im
Süden zu finden, die aufrichtigen Preußenfeinde ſich doch ein-
mal ernſtlich fragen ſollten, ob nicht dieſes Bild, das mit der
Politik ſo wenig zu ſchaffen hat, ihnen den Blick für ihre
„materiellen und immateriellen Intereſſen“ mehr als ſie ſich
ſelbſt eingeſtehen, getrübt hat.

Der Nordländer iſt von Natur zurückhaltender, kühler,
ernſter, arbeitſamer, der Südländer leicht- und warmblütiger,
geſelliger, anſchlüſſiger, heiterer, geſprächsluſtiger, unter-
haltungsbedürftiger, vergnüglicher. Für allen menſchlichen
Verkehr ſind Zugeſtändniſſe an Individuelles — auch Volks-
ſtämme ſind in dem Sinne Individuen — die nothwendige
Grundlage, und werden uns um ſo leichter, je mehr wir
einſehen, daß Vorzüge ſowohl wie Schwächen ſtets ihre Licht-
und ihre Kehrſeite haben. Auf alle Fälle iſt es für unſer
perſönliches und nationales Ehrgefühl keine Verletzung, wenn
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[208/0222] VII. Süd- und Norddeutſche — Norden und Süden. Lebens nicht ſowohl durch Schädigung oder Bedrohung wirk- licher Intereſſen hervorgerufen, als vielmehr: — durch ver- letztes Selbſtgefühl. Wurden oder glauben wir unſre „mate- riellen Intereſſen“ angetaſtet, ſo ſind wir minder geneigt, viel Worte zu machen, greifen auch nicht ſo leicht fehl in der Wahl der Mittel, dagegen laſſen wir uns zu Bitterkeiten, Uebertreibungen und Ungerechtigkeiten vorzüglich dann hin- reißen, wenn unſre Eigenliebe ſich gekränkt fühlt. Tiefer einzugehen auf politiſche Controverſen, iſt hier nicht der Ort, nur die Bemerkung kann ich nicht unterdrücken, daß der Continentale, angenommen, die Engländer wären in der That durchweg hochfahrend, ungeſellig, gemüthlos, offenbar ſehr Recht hätte, ihre Geſellſchaft zu meiden, daß hingegen, geſetzt auch, die Wirklichkeit entſpräche dem Bilde, welches gewiſſe Zeitungen von den Preußen ſechs Mal wöchentlich zeichnen, angenommen, die letzteren wären ſämmtlich „kalte Verſtandesmenſchen“ ꝛc. und das „deutſche Gemüth“ nur im Süden zu finden, die aufrichtigen Preußenfeinde ſich doch ein- mal ernſtlich fragen ſollten, ob nicht dieſes Bild, das mit der Politik ſo wenig zu ſchaffen hat, ihnen den Blick für ihre „materiellen und immateriellen Intereſſen“ mehr als ſie ſich ſelbſt eingeſtehen, getrübt hat. Der Nordländer iſt von Natur zurückhaltender, kühler, ernſter, arbeitſamer, der Südländer leicht- und warmblütiger, geſelliger, anſchlüſſiger, heiterer, geſprächsluſtiger, unter- haltungsbedürftiger, vergnüglicher. Für allen menſchlichen Verkehr ſind Zugeſtändniſſe an Individuelles — auch Volks- ſtämme ſind in dem Sinne Individuen — die nothwendige Grundlage, und werden uns um ſo leichter, je mehr wir einſehen, daß Vorzüge ſowohl wie Schwächen ſtets ihre Licht- und ihre Kehrſeite haben. Auf alle Fälle iſt es für unſer perſönliches und nationales Ehrgefühl keine Verletzung, wenn der andere Theil ſeinem Volksgebrauche folgt und uns gegenüber ſich ſo paſſiv verhält, wie er es gegen jeden, ihm unbekannten Landsmann gethan hätte; ebenſowenig gibt es

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/222>, abgerufen am 25.11.2024.