Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Geschmacksbildung -- gaumenästhetische Rangliste.
der Künstler in Person erscheinen und den Wink in einer für
Uneingeweihte unmerklichen Weise geben, ebenso auch, wenn
irgend eine der Aufmerksamkeit vorzüglich würdige Delicatesse,
eine primeur oder dergleichen vorhanden und vom Professeur
unbeachtet geblieben wäre. Der Rath, bei je zwei, drei ver-
schiedenen Restaurants die einzelnen Theile seines Diners
einzunehmen, während draußen das Cabriolet wartet, ist
wohlgemeint aber verwerflich: auch die Gaumenästhetik ver-
langt "Einheit des Orts". Einen wirklichen Kenner zu
finden und zum Lehrer zu gewinnen, ist Sache des Glücks,
darum nur noch wenige Worte über den Gegenstand. Man
halte sich nie an den Rath jüngerer Leute. Bildung des
Geschmacks in Literatur und Kunst läßt sich allenfalls bis
zum ersten Mannesalter erwerben, zur höheren Entwickelung
der Zungenkritik jedoch gehört ein volles und reiches
Menschenleben bis zu den Jahren der rückbildenden Meta-
morphose. Wie es scheint, flüchten sich dann alle geistigen
und körperlichen Kräfte des Menschen in Zunge und Ge-
schmacksorgane. Nach der Berufsart wäre etwa so zu classi-
ficiren. In die höchste Rangclasse der Kenner zählen Prälaten
(nicht italienische und spanische, sondern mitteleuropäische),
einzelne, nicht zu sehr beschäftigte Diplomaten, an denen zur
Zeit noch kein Mangel ist, ein Theil des reichen Stadtadels,
bedeutende Industrielle und Kaufherren großer Städte, ebenso
haute finance (das Prädicat a la financiere ist stets eine
Auszeichnung) ohne Unterschied der Nationalität. Manche
wollen dem semitischen Stamme den meisten Credit geben.
In zweiter Ordnung, mehr Liebhaber als Kenner, aber
letzteren Titel beanspruchend, stehen reiche Landwirthe, höhere
Officiere a. D., einige kleine Hofkreise, Aerzte und Anwälte
mit vielen Clienten und Patienten. Die dritte Classe umfaßt
die übrigen Berufskreise der gebildeten und bemittelten
Stände, mit Ausnahme der Schulmänner, protestantischen
Geistlichen, Dichter und Marineofficiere, welche sämmtlich auf
die unterste Rangstufe der Gaumenästhetiker gehören. --

VI. Geſchmacksbildung — gaumenäſthetiſche Rangliſte.
der Künſtler in Perſon erſcheinen und den Wink in einer für
Uneingeweihte unmerklichen Weiſe geben, ebenſo auch, wenn
irgend eine der Aufmerkſamkeit vorzüglich würdige Delicateſſe,
eine primeur oder dergleichen vorhanden und vom Profeſſeur
unbeachtet geblieben wäre. Der Rath, bei je zwei, drei ver-
ſchiedenen Reſtaurants die einzelnen Theile ſeines Diners
einzunehmen, während draußen das Cabriolet wartet, iſt
wohlgemeint aber verwerflich: auch die Gaumenäſthetik ver-
langt „Einheit des Orts“. Einen wirklichen Kenner zu
finden und zum Lehrer zu gewinnen, iſt Sache des Glücks,
darum nur noch wenige Worte über den Gegenſtand. Man
halte ſich nie an den Rath jüngerer Leute. Bildung des
Geſchmacks in Literatur und Kunſt läßt ſich allenfalls bis
zum erſten Mannesalter erwerben, zur höheren Entwickelung
der Zungenkritik jedoch gehört ein volles und reiches
Menſchenleben bis zu den Jahren der rückbildenden Meta-
morphoſe. Wie es ſcheint, flüchten ſich dann alle geiſtigen
und körperlichen Kräfte des Menſchen in Zunge und Ge-
ſchmacksorgane. Nach der Berufsart wäre etwa ſo zu claſſi-
ficiren. In die höchſte Rangclaſſe der Kenner zählen Prälaten
(nicht italieniſche und ſpaniſche, ſondern mitteleuropäiſche),
einzelne, nicht zu ſehr beſchäftigte Diplomaten, an denen zur
Zeit noch kein Mangel iſt, ein Theil des reichen Stadtadels,
bedeutende Induſtrielle und Kaufherren großer Städte, ebenſo
haute finance (das Prädicat à la financière iſt ſtets eine
Auszeichnung) ohne Unterſchied der Nationalität. Manche
wollen dem ſemitiſchen Stamme den meiſten Credit geben.
In zweiter Ordnung, mehr Liebhaber als Kenner, aber
letzteren Titel beanſpruchend, ſtehen reiche Landwirthe, höhere
Officiere a. D., einige kleine Hofkreiſe, Aerzte und Anwälte
mit vielen Clienten und Patienten. Die dritte Claſſe umfaßt
die übrigen Berufskreiſe der gebildeten und bemittelten
Stände, mit Ausnahme der Schulmänner, proteſtantiſchen
Geiſtlichen, Dichter und Marineofficiere, welche ſämmtlich auf
die unterſte Rangſtufe der Gaumenäſthetiker gehören. —

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0192" n="178"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Ge&#x017F;chmacksbildung &#x2014; gaumenä&#x017F;theti&#x017F;che Rangli&#x017F;te.</fw><lb/>
der Kün&#x017F;tler in Per&#x017F;on er&#x017F;cheinen und den Wink in einer für<lb/>
Uneingeweihte unmerklichen Wei&#x017F;e geben, eben&#x017F;o auch, wenn<lb/>
irgend eine der Aufmerk&#x017F;amkeit vorzüglich würdige Delicate&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
eine <hi rendition="#aq">primeur</hi> oder dergleichen vorhanden und vom Profe&#x017F;&#x017F;eur<lb/>
unbeachtet geblieben wäre. Der Rath, bei je zwei, drei ver-<lb/>
&#x017F;chiedenen Re&#x017F;taurants die einzelnen Theile &#x017F;eines Diners<lb/>
einzunehmen, während draußen das Cabriolet wartet, i&#x017F;t<lb/>
wohlgemeint aber verwerflich: auch die Gaumenä&#x017F;thetik ver-<lb/>
langt &#x201E;Einheit des Orts&#x201C;. Einen wirklichen Kenner zu<lb/>
finden und zum Lehrer zu gewinnen, i&#x017F;t Sache des Glücks,<lb/>
darum nur noch wenige Worte über den Gegen&#x017F;tand. Man<lb/>
halte &#x017F;ich nie an den Rath jüngerer Leute. Bildung des<lb/>
Ge&#x017F;chmacks in Literatur und Kun&#x017F;t läßt &#x017F;ich allenfalls bis<lb/>
zum er&#x017F;ten Mannesalter erwerben, zur höheren Entwickelung<lb/>
der Zungenkritik jedoch gehört ein volles und reiches<lb/>
Men&#x017F;chenleben bis zu den Jahren der rückbildenden Meta-<lb/>
morpho&#x017F;e. Wie es &#x017F;cheint, flüchten &#x017F;ich dann alle gei&#x017F;tigen<lb/>
und körperlichen Kräfte des Men&#x017F;chen in Zunge und Ge-<lb/>
&#x017F;chmacksorgane. Nach der Berufsart wäre etwa &#x017F;o zu cla&#x017F;&#x017F;i-<lb/>
ficiren. In die höch&#x017F;te Rangcla&#x017F;&#x017F;e der Kenner zählen Prälaten<lb/>
(nicht italieni&#x017F;che und &#x017F;pani&#x017F;che, &#x017F;ondern mitteleuropäi&#x017F;che),<lb/>
einzelne, nicht zu &#x017F;ehr be&#x017F;chäftigte Diplomaten, an denen zur<lb/>
Zeit noch kein Mangel i&#x017F;t, ein Theil des reichen Stadtadels,<lb/>
bedeutende Indu&#x017F;trielle und Kaufherren großer Städte, eben&#x017F;o<lb/><hi rendition="#aq">haute finance</hi> (das Prädicat <hi rendition="#aq">à la financière</hi> i&#x017F;t &#x017F;tets eine<lb/>
Auszeichnung) ohne Unter&#x017F;chied der Nationalität. Manche<lb/>
wollen dem &#x017F;emiti&#x017F;chen Stamme den mei&#x017F;ten Credit geben.<lb/>
In zweiter Ordnung, mehr Liebhaber als Kenner, aber<lb/>
letzteren Titel bean&#x017F;pruchend, &#x017F;tehen reiche Landwirthe, höhere<lb/>
Officiere a. D., einige kleine Hofkrei&#x017F;e, Aerzte und Anwälte<lb/>
mit vielen Clienten und Patienten. Die dritte Cla&#x017F;&#x017F;e umfaßt<lb/>
die übrigen Berufskrei&#x017F;e der gebildeten und bemittelten<lb/>
Stände, mit Ausnahme der Schulmänner, prote&#x017F;tanti&#x017F;chen<lb/>
Gei&#x017F;tlichen, Dichter und Marineofficiere, welche &#x017F;ämmtlich auf<lb/>
die unter&#x017F;te Rang&#x017F;tufe der Gaumenä&#x017F;thetiker gehören. &#x2014;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0192] VI. Geſchmacksbildung — gaumenäſthetiſche Rangliſte. der Künſtler in Perſon erſcheinen und den Wink in einer für Uneingeweihte unmerklichen Weiſe geben, ebenſo auch, wenn irgend eine der Aufmerkſamkeit vorzüglich würdige Delicateſſe, eine primeur oder dergleichen vorhanden und vom Profeſſeur unbeachtet geblieben wäre. Der Rath, bei je zwei, drei ver- ſchiedenen Reſtaurants die einzelnen Theile ſeines Diners einzunehmen, während draußen das Cabriolet wartet, iſt wohlgemeint aber verwerflich: auch die Gaumenäſthetik ver- langt „Einheit des Orts“. Einen wirklichen Kenner zu finden und zum Lehrer zu gewinnen, iſt Sache des Glücks, darum nur noch wenige Worte über den Gegenſtand. Man halte ſich nie an den Rath jüngerer Leute. Bildung des Geſchmacks in Literatur und Kunſt läßt ſich allenfalls bis zum erſten Mannesalter erwerben, zur höheren Entwickelung der Zungenkritik jedoch gehört ein volles und reiches Menſchenleben bis zu den Jahren der rückbildenden Meta- morphoſe. Wie es ſcheint, flüchten ſich dann alle geiſtigen und körperlichen Kräfte des Menſchen in Zunge und Ge- ſchmacksorgane. Nach der Berufsart wäre etwa ſo zu claſſi- ficiren. In die höchſte Rangclaſſe der Kenner zählen Prälaten (nicht italieniſche und ſpaniſche, ſondern mitteleuropäiſche), einzelne, nicht zu ſehr beſchäftigte Diplomaten, an denen zur Zeit noch kein Mangel iſt, ein Theil des reichen Stadtadels, bedeutende Induſtrielle und Kaufherren großer Städte, ebenſo haute finance (das Prädicat à la financière iſt ſtets eine Auszeichnung) ohne Unterſchied der Nationalität. Manche wollen dem ſemitiſchen Stamme den meiſten Credit geben. In zweiter Ordnung, mehr Liebhaber als Kenner, aber letzteren Titel beanſpruchend, ſtehen reiche Landwirthe, höhere Officiere a. D., einige kleine Hofkreiſe, Aerzte und Anwälte mit vielen Clienten und Patienten. Die dritte Claſſe umfaßt die übrigen Berufskreiſe der gebildeten und bemittelten Stände, mit Ausnahme der Schulmänner, proteſtantiſchen Geiſtlichen, Dichter und Marineofficiere, welche ſämmtlich auf die unterſte Rangſtufe der Gaumenäſthetiker gehören. —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/192
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/192>, abgerufen am 25.11.2024.