Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Trösteinsamkeit -- Gärtnerei -- Zucht der Phantasie. friedensten Menschen die Gärtner gehören. Auch gegen Nach-bildungen vermittelst Bleistift, Kreide, Pinsel wird Euer Arzt schwerlich etwas einwenden, wenn nicht etwa die Augen leiden. Muß und soll schlechterdings das Haupttagewerk aus Lesen oder Vorlesenlassen bestehen, so seien wenigstens ein paar Stunden täglich solchen Büchern gewidmet, die nicht in die Rubrik "leichte Unterhaltungslectüre" fallen. Fertigt, wenn's Euer Doctor erlaubt, schriftliche Auszüge an aus dem Gelesenen und lest lieber ein Buch öfter als viele Bücher einmal. Das Geheimniß besteht darin, die Art und den Grad der Thätigkeit zu ermitteln, der im vorliegenden Falle angemessen ist. Sehr wesentlich ist in allen diesen Dingen die Zucht V. Tröſteinſamkeit — Gärtnerei — Zucht der Phantaſie. friedenſten Menſchen die Gärtner gehören. Auch gegen Nach-bildungen vermittelſt Bleiſtift, Kreide, Pinſel wird Euer Arzt ſchwerlich etwas einwenden, wenn nicht etwa die Augen leiden. Muß und ſoll ſchlechterdings das Haupttagewerk aus Leſen oder Vorleſenlaſſen beſtehen, ſo ſeien wenigſtens ein paar Stunden täglich ſolchen Büchern gewidmet, die nicht in die Rubrik „leichte Unterhaltungslectüre“ fallen. Fertigt, wenn’s Euer Doctor erlaubt, ſchriftliche Auszüge an aus dem Geleſenen und lest lieber ein Buch öfter als viele Bücher einmal. Das Geheimniß beſteht darin, die Art und den Grad der Thätigkeit zu ermitteln, der im vorliegenden Falle angemeſſen iſt. Sehr weſentlich iſt in allen dieſen Dingen die Zucht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0174" n="160"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Tröſteinſamkeit — Gärtnerei — Zucht der Phantaſie.</fw><lb/> friedenſten Menſchen die Gärtner gehören. Auch gegen Nach-<lb/> bildungen vermittelſt Bleiſtift, Kreide, Pinſel wird Euer<lb/> Arzt ſchwerlich etwas einwenden, wenn nicht etwa die Augen<lb/> leiden. Muß und ſoll ſchlechterdings das Haupttagewerk aus<lb/> Leſen oder Vorleſenlaſſen beſtehen, ſo ſeien wenigſtens ein<lb/> paar Stunden täglich ſolchen Büchern gewidmet, die nicht in<lb/> die Rubrik „leichte Unterhaltungslectüre“ fallen. Fertigt,<lb/> wenn’s Euer Doctor erlaubt, ſchriftliche Auszüge an aus dem<lb/> Geleſenen und lest lieber ein Buch öfter als viele Bücher<lb/> einmal. Das Geheimniß beſteht darin, die Art und den<lb/> Grad der Thätigkeit zu ermitteln, der im vorliegenden Falle<lb/> angemeſſen iſt.</p><lb/> <p>Sehr weſentlich iſt in allen dieſen Dingen die <hi rendition="#g">Zucht<lb/> der Phantaſie</hi>. In den meiſten Nervenleiden hat dieſe<lb/> den Hang, ſich in die Krankheit ſelbſt, ihre Urſachen und Wir-<lb/> kungen, ihren möglichen Verlauf und ſonſtige peinigende Vor-<lb/> ſtellungen, Erinnerungen, Befürchtungen zu vertiefen. Was<lb/> die Aerzte dabei zu verordnen haben, iſt ihre Sache, wir Pa-<lb/> tienten thun auf alle Fälle wohl, Hilfe nicht allein von ihnen<lb/> zu erwarten, ſondern ſelbſt Hand anzulegen. <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118554514">Hufeland</persName> nennt<lb/> „eine lieblich gerichtete Einbildungskraft“ eines der wichtig-<lb/> ſten Lebensverlängerungsmittel. Ebenſo wichtig als dieſe<lb/> Verlängerung ſcheint es, unſren Lebensweg möglichſt zu<lb/> ebnen, an die vorhandenen Steine nicht hart zu ſtoßen,<lb/> vor Allem nicht neue eigenhändig herbeizutragen. Auch hier<lb/> ſpielt die Phantaſie die Hauptrolle. Bei Einem, der dieſer<lb/> traurigen Gewohnheit verfallen iſt, würden wir jedoch mit<lb/> dem Rathe, ſeine Einbildungskraft lieblich zu richten, wenig<lb/> Glück machen, wahrſcheinlich würde er ihn ſo aufnehmen, wie<lb/> ein Lahmer, dem wir riethen, nicht zu hinken, denn auf ein-<lb/> mal wäre es zu viel verlangt. Vielleicht findet derſelbe Rath<lb/> in anderer Faſſung Eingang, wenn wir ihn z. B. an das<lb/> erinnern, was im <hi rendition="#aq">IV.</hi> Capitel Einem empfohlen wurde, der<lb/> das Unglück hatte, im Hochgebirg auf glatter, abſchüſſiger<lb/> Fläche zu ſtürzen und abwärts zu treiben. Mehre dort auf-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [160/0174]
V. Tröſteinſamkeit — Gärtnerei — Zucht der Phantaſie.
friedenſten Menſchen die Gärtner gehören. Auch gegen Nach-
bildungen vermittelſt Bleiſtift, Kreide, Pinſel wird Euer
Arzt ſchwerlich etwas einwenden, wenn nicht etwa die Augen
leiden. Muß und ſoll ſchlechterdings das Haupttagewerk aus
Leſen oder Vorleſenlaſſen beſtehen, ſo ſeien wenigſtens ein
paar Stunden täglich ſolchen Büchern gewidmet, die nicht in
die Rubrik „leichte Unterhaltungslectüre“ fallen. Fertigt,
wenn’s Euer Doctor erlaubt, ſchriftliche Auszüge an aus dem
Geleſenen und lest lieber ein Buch öfter als viele Bücher
einmal. Das Geheimniß beſteht darin, die Art und den
Grad der Thätigkeit zu ermitteln, der im vorliegenden Falle
angemeſſen iſt.
Sehr weſentlich iſt in allen dieſen Dingen die Zucht
der Phantaſie. In den meiſten Nervenleiden hat dieſe
den Hang, ſich in die Krankheit ſelbſt, ihre Urſachen und Wir-
kungen, ihren möglichen Verlauf und ſonſtige peinigende Vor-
ſtellungen, Erinnerungen, Befürchtungen zu vertiefen. Was
die Aerzte dabei zu verordnen haben, iſt ihre Sache, wir Pa-
tienten thun auf alle Fälle wohl, Hilfe nicht allein von ihnen
zu erwarten, ſondern ſelbſt Hand anzulegen. Hufeland nennt
„eine lieblich gerichtete Einbildungskraft“ eines der wichtig-
ſten Lebensverlängerungsmittel. Ebenſo wichtig als dieſe
Verlängerung ſcheint es, unſren Lebensweg möglichſt zu
ebnen, an die vorhandenen Steine nicht hart zu ſtoßen,
vor Allem nicht neue eigenhändig herbeizutragen. Auch hier
ſpielt die Phantaſie die Hauptrolle. Bei Einem, der dieſer
traurigen Gewohnheit verfallen iſt, würden wir jedoch mit
dem Rathe, ſeine Einbildungskraft lieblich zu richten, wenig
Glück machen, wahrſcheinlich würde er ihn ſo aufnehmen, wie
ein Lahmer, dem wir riethen, nicht zu hinken, denn auf ein-
mal wäre es zu viel verlangt. Vielleicht findet derſelbe Rath
in anderer Faſſung Eingang, wenn wir ihn z. B. an das
erinnern, was im IV. Capitel Einem empfohlen wurde, der
das Unglück hatte, im Hochgebirg auf glatter, abſchüſſiger
Fläche zu ſtürzen und abwärts zu treiben. Mehre dort auf-
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Zitationshilfe: | Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/174>, abgerufen am 16.07.2024. |