Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Verweile! -- Galerien -- wiederholte Reisen. Linien haben Zeit, sich fühlen zu lassen; man belauscht ihreBewegungen bis auf die zartesten Biegungen; die Höhen offenbaren, verschieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die reichste Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf jede Berghalde schreibt sich ein Gedicht, jede Stunde vervoll- ständigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen- blick, die andere einen Windstoß, eine Wolkengruppe, ein Gewitter, einen stürzenden Block, eine Lawine, die Erweite- rung einer Eisspalte, eine Bewegung des Gletschers, ein inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt sich nur ein Vers der Epopöe belauschen, bei oft wiederholtem Besuche jedoch enthüllen sich ganze Gesänge, und die Einbildungskraft ist bemüht, das ganze Gedicht wiederherzustellen." Auch mit Gemäldegalerien, beiläufig bemerkt, Selbst die Wiederholung ganzer Reisen ver- V. Verweile! — Galerien — wiederholte Reiſen. Linien haben Zeit, ſich fühlen zu laſſen; man belauſcht ihreBewegungen bis auf die zarteſten Biegungen; die Höhen offenbaren, verſchieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die reichſte Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf jede Berghalde ſchreibt ſich ein Gedicht, jede Stunde vervoll- ſtändigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen- blick, die andere einen Windſtoß, eine Wolkengruppe, ein Gewitter, einen ſtürzenden Block, eine Lawine, die Erweite- rung einer Eisſpalte, eine Bewegung des Gletſchers, ein inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt ſich nur ein Vers der Epopöe belauſchen, bei oft wiederholtem Beſuche jedoch enthüllen ſich ganze Geſänge, und die Einbildungskraft iſt bemüht, das ganze Gedicht wiederherzuſtellen.“ Auch mit Gemäldegalerien, beiläufig bemerkt, Selbſt die Wiederholung ganzer Reiſen ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0146" n="132"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Verweile! — Galerien — wiederholte Reiſen.</fw><lb/> Linien haben Zeit, ſich fühlen zu laſſen; man belauſcht ihre<lb/> Bewegungen bis auf die zarteſten Biegungen; die Höhen<lb/> offenbaren, verſchieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die<lb/> reichſte Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf<lb/> jede Berghalde ſchreibt ſich ein Gedicht, jede Stunde vervoll-<lb/> ſtändigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen-<lb/> blick, die andere einen Windſtoß, eine Wolkengruppe, ein<lb/> Gewitter, einen ſtürzenden Block, eine Lawine, die Erweite-<lb/> rung einer Eisſpalte, eine Bewegung des Gletſchers, ein<lb/> inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt ſich nur<lb/> ein Vers der Epopöe belauſchen, bei oft wiederholtem Beſuche<lb/> jedoch enthüllen ſich ganze Geſänge, und die Einbildungskraft<lb/> iſt bemüht, das ganze Gedicht wiederherzuſtellen.“</p><lb/> <p>Auch mit <hi rendition="#g">Gemäldegalerien</hi>, beiläufig bemerkt,<lb/> halte ich es (als Touriſt von Fach aber Kunſtdilettant) gern<lb/> ähnlich: ich laufe nicht mit den Augen flüchtig von Nummer<lb/> zu Nummer jedes Saales, wie Kinder ein Bilderbuch durch-<lb/> blättern, noch verweile ich mit Kennermiene übermäßig lange<lb/> bei Einzelnem, ſondern hole mir vorher aus Büchern oder<lb/> von Sachkundigen Rath über das Betrachtenswertheſte, be-<lb/> ſichtige dies <hi rendition="#g">wiederholt mit Muße und Samm-<lb/> lung</hi>, und befaſſe mich mit dem Uebrigen gar nicht. Fühle<lb/> ich die Aufmerkſamkeit oder die Augen ermatten, ſo ſehe ich<lb/> es keineswegs wie ſo Viele für eine Ehrenſache an, die vorher<lb/> beſtimmte Zeit einzuhalten, ſondern gönne mir entweder eine<lb/> Erholungspauſe im Freien, oder breche für den Tag ganz ab.<lb/> Erzwungenes, unluſtiges, mechaniſches Abdreſchen eines Pen-<lb/> ſums bleibt an und für ſich fruchtlos, wirkt erſchlaffend und<lb/> ſetzt ſich leicht zur Gewohnheit feſt.</p><lb/> <p>Selbſt die <hi rendition="#g">Wiederholung ganzer Reiſen</hi> ver-<lb/> dient empfohlen zu werden, zumal wenn ſie beſonders reich<lb/> ausgeſtatteten Ländern gilt; denn erſt nachdem der blendende,<lb/> verwirrende Reiz der Neuheit geſchwunden, wird die Be-<lb/> obachtung unbefangener, gegenſtändlicher und die Zeitein-<lb/> theilung entſprechender. Daß Mancher „ſehr enttäuſcht“<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [132/0146]
V. Verweile! — Galerien — wiederholte Reiſen.
Linien haben Zeit, ſich fühlen zu laſſen; man belauſcht ihre
Bewegungen bis auf die zarteſten Biegungen; die Höhen
offenbaren, verſchieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die
reichſte Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf
jede Berghalde ſchreibt ſich ein Gedicht, jede Stunde vervoll-
ſtändigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen-
blick, die andere einen Windſtoß, eine Wolkengruppe, ein
Gewitter, einen ſtürzenden Block, eine Lawine, die Erweite-
rung einer Eisſpalte, eine Bewegung des Gletſchers, ein
inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt ſich nur
ein Vers der Epopöe belauſchen, bei oft wiederholtem Beſuche
jedoch enthüllen ſich ganze Geſänge, und die Einbildungskraft
iſt bemüht, das ganze Gedicht wiederherzuſtellen.“
Auch mit Gemäldegalerien, beiläufig bemerkt,
halte ich es (als Touriſt von Fach aber Kunſtdilettant) gern
ähnlich: ich laufe nicht mit den Augen flüchtig von Nummer
zu Nummer jedes Saales, wie Kinder ein Bilderbuch durch-
blättern, noch verweile ich mit Kennermiene übermäßig lange
bei Einzelnem, ſondern hole mir vorher aus Büchern oder
von Sachkundigen Rath über das Betrachtenswertheſte, be-
ſichtige dies wiederholt mit Muße und Samm-
lung, und befaſſe mich mit dem Uebrigen gar nicht. Fühle
ich die Aufmerkſamkeit oder die Augen ermatten, ſo ſehe ich
es keineswegs wie ſo Viele für eine Ehrenſache an, die vorher
beſtimmte Zeit einzuhalten, ſondern gönne mir entweder eine
Erholungspauſe im Freien, oder breche für den Tag ganz ab.
Erzwungenes, unluſtiges, mechaniſches Abdreſchen eines Pen-
ſums bleibt an und für ſich fruchtlos, wirkt erſchlaffend und
ſetzt ſich leicht zur Gewohnheit feſt.
Selbſt die Wiederholung ganzer Reiſen ver-
dient empfohlen zu werden, zumal wenn ſie beſonders reich
ausgeſtatteten Ländern gilt; denn erſt nachdem der blendende,
verwirrende Reiz der Neuheit geſchwunden, wird die Be-
obachtung unbefangener, gegenſtändlicher und die Zeitein-
theilung entſprechender. Daß Mancher „ſehr enttäuſcht“
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